# taz.de -- Geothermie in Bayern: Das Risikokraftwerk
       
       > Eine kanadische Firma will bei München ein neuartiges Erdwärmeprojekt
       > realisieren. Wissenschaftler äußern Bedenken gegen die Technik.
       
 (IMG) Bild: Segnung des Bohrmeißels im Juli vom umstrittenen Erdwärmeprojekt bei München
       
       FREIBURG taz | Politprominenz hat sich für diesen Donnerstag in Geretsried
       südlich von München angesagt: Gemeinsam wollen sich Bundeskanzler [1][Olaf
       Scholz] (SPD), Forschungsministerin [2][Bettina Stark-Watzinger] (FDP)
       sowie Bayerns Ministerpräsident [3][Markus Söder (CSU)] über ein
       ungewöhnliches Geothermieprojekt informieren.
       
       Doch ausgerechnet renommierte Geologen und Geophysiker stören nun die
       PR-Idylle von Unternehmen und Politik: Das Projekt sei „extrem
       risikobehaftet“, sein möglicher Energiebeitrag „äußerst fraglich“. Damit
       bestehe die Gefahr eines „enormen Imageschadens für die gesamte
       [4][Geothermie]“.
       
       Bei dem Projekt setzt die kanadische Firma Eavor auf eine neue Technik –
       und auf einen gigantischen Aufwand: Insgesamt 360 Kilometer lang sollen die
       Bohrungen im Untergrund werden. Klassische Geothermiekraftwerke kommen mit
       etwa acht Kilometer Bohrstrecke aus. Typische Anlagen verfügen über eine
       sogenannte Dublette, zwei Bohrungen, die jeweils etwa vier Kilometer in die
       Tiefe reichen, von denen eine der Förderung des heißen Wassers dient, die
       andere dem Verpressen.
       
       In Geretsried aber sollen von den Bohrungen in 4,5 Kilometer Tiefe viele
       horizontale Stränge ausgehen, die jeweils mehr als drei Kilometer lang
       sind. Indem diese an den Enden miteinander verbunden werden, sollen
       unterirdische Wärmeschleifen entstehen. „Closed Loop“ heißt diese Technik.
       
       ## Erhebliche Zweifel an Realisierbarkeit
       
       Geowissenschaftler äußern nun allerdings erhebliche Zweifel an der
       Realisierbarkeit. Einer von ihnen ist Professor Horst Rüter von der
       Ruhruniversität Bochum, der sich seit Jahrzehnten mit geologischen
       Explorationsverfahren und der Nutzung geothermischer Ressourcen befasst und
       zeitweise auch Präsident des Bundesverbands Geothermie war.
       
       Zusammen mit fünf Fachkollegen hat Rüter angesichts der bis zu 350
       Millionen Euro, die laut Firmenangaben in Geretsried verbohrt und verbaut
       werden sollen – mehr als 90 Millionen davon sind EU-Fördergelder –, jetzt
       einen Brandbrief an den Branchenverband geschrieben, der der taz vorliegt.
       
       Es bestünden „gegen diese Technologie erhebliche grundsätzliche Bedenken“.
       Die Risiken begännen bereits mit den kilometerlangen Bohrungen, die ein
       Ziel in der Größe eines DIN-A4-Blatts treffen müssen. Ob die Bohrtechnik
       dazu in der Lage ist, sei fraglich.
       
       ## Bohrungen sollen nicht ausgekleidet werden
       
       Hinzu kommt, dass – gemessen an den Bohrlängen – die geplante elektrische
       Leistung des Kraftwerks mit gerade 8,2 Megawatt äußerst bescheiden ist. Das
       liegt in der Natur des Verfahrens, weil hier kein Thermalwasser angezapft,
       sondern lediglich die Wärme des Untergrunds in einer Art riesigem
       Durchlauferhitzer genutzt wird. Experten zweifeln, dass das wirtschaftlich
       funktionieren kann, nicht zuletzt, weil die Wärmebereitstellung „nicht
       dauerhaft sein“ könne.
       
       Die Firma Eavor hält alle Bedenken für unbegründet. Die Bohrtechnik werde
       „seit vielen Jahren in der Kohlenwasserstoff-Industrie erfolgreich
       eingesetzt“ und sei für die eigene Anwendung weiterentwickelt worden.
       Referenzobjekt sei eine „seit 2019 erfolgreiche Testanlage in Alberta,
       Kanada“. Geretsried als die erste kommerzielle Anlage werde „durchaus
       wirtschaftlich“ sein – und bei jedem weiteren Projekt werde man „schneller,
       besser und preiswerter“.
       
       Die Kritiker können den Optimismus nicht nachvollziehen und benennen
       weitere Vorbehalte: Die horizontalen Bohrungen sollen nicht – wie
       klassische Erdwärmebohrlöcher – mit Rohren ausgekleidet, sondern nur
       wasserdicht beschichtet werden.
       
       ## Verfahren wird wahrscheinlich versagen
       
       Die Firma spricht von „einer Art 2-Komponenten-Kleber“, mit dem „das
       umliegende Gestein imprägniert und damit hermetisch abdichtet“ werde.
       Dieses Verfahren, fürchten wiederum die externen Geowissenschaftler in
       ihrem Brief, werde „voraussichtlich versagen“, sobald eine Bohrung
       geologische Störzonen durchstößt. Solche würden „bei allen bekannten
       Bohrungen in der Umgebung regelmäßig nachgewiesen“.
       
       Da zudem zur Förderung des Wassers keine Pumpen eingesetzt werden, sondern
       das erwärmte Wasser durch seine geringere Dichte von selbst aufsteigen
       soll, gebe es keine Möglichkeit, den Wasserfluss in den Verästelungen des
       Systems zu beeinflussen, warnen die Kritiker. Es gebe „bisher weltweit
       keine einzige erfolgreich produzierende Anlage nach diesem Prinzip“, somit
       seien „alle kommunizierten Vorteile äußerst spekulativ“.
       
       Eavor unterdessen betont: Der Wärmetransport – in der Technik spricht man
       vom „Thermosiphon-Effekt“ – könne simuliert werden und das Verfahren
       funktioniere in der Testanlage „seit vier Jahren störungsfrei“.
       
       ## Erdwärmetechnik in Verruf
       
       Den Wissenschaftlern um Professor Rüter geht es bei ihrer vehementen Kritik
       allein um die Sache: „Ich wäre ja froh, wir würden uns irren“, sagt der
       Geophysiker. Aber er habe wenig Hoffnung danebenzuliegen, denn die Risiken
       seien „nicht übersehbar“.
       
       Weil ein Scheitern dieses Projekts – nicht zuletzt wegen der aufgebotenen
       Politprominenz – die gesamte Erdwärmetechnik in Verruf bringen könnte,
       haben die Geowissenschaftler sich nun an das Präsidium des Bundesverbands
       Geothermie gewandt. In dem Brief bitten sie darum, „alles Denkbare zu
       unternehmen um den sich hier abzeichnenden Schaden von der Geothermie
       abzuwenden“. Das Schreiben, so heißt es, habe inzwischen auch den Weg ins
       [5][Kanzleramt] gefunden.
       
       Allerdings ist vom Branchenverband in dieser Hinsicht keine unbefangene
       Einschätzung zu erwarten – schließlich zählt Eavor zum Kreis der
       Verbandsmitglieder, ebenso der österreichische Öl- und Gaskonzern OMV, der
       sich bei Eavor eingekauft hat. Daher erklärt der Verband auf Anfrage nur,
       er erwarte „die Ergebnisse des Projekts mit Spannung“. Zur Frage, ob das
       Pilotprojekt wirtschaftlich werde arbeiten können, sei „keine seriöse
       Aussage möglich“.
       
       ## Stadtwerke München beteiligen sich nicht
       
       Bemerkenswert ist unterdessen, dass die Stadtwerke [6][München] beim
       Projekt Geretsried nicht dabei sind. Das Unternehmen hat in den vergangenen
       Jahren viel Erfahrung in der Geothermie gesammelt und auch in einige
       Erdwärmekraftwerke in der Region investiert. Hatte man bei dem Münchner
       Unternehmen womöglich ebenfalls Bedenken gegen die neue Technik? Auf
       Anfrage heißt es bei den Stadtwerken nur, man sei „mit vielen Gemeinden im
       Gespräch“ und wolle sich „zu einzelnen Projekten nicht äußern“.
       
       So wird wohl erst die Praxis zeigen, ob der Optimismus der Bauherren
       angemessen war oder doch eher die Befürchtung der unabhängigen Experten.
       Das Wohlwollen von ganz oben sollte dem Projekt aber immerhin zuteil
       werden: Anfang Juli wurde der Bohrmeißel von sogar zwei Pfarrern gesegnet.
       
       24 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Olaf-Scholz-zu-Kritik-an-Klimaplaenen/!5925078
 (DIR) [2] /Kandidatur-fuer-FDP-Vize/!5928266
 (DIR) [3] /Markus-Soeder-im-Wahlkampf/!5947595
 (DIR) [4] /Waermewende-aus-der-Tiefe/!5883053
 (DIR) [5] /Deutsch-chinesische-Konsultationen/!5938997
 (DIR) [6] /Gleichstellungsbeauftrage-ueber-Muenchen/!5648572
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Bernward Janzing
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Energiewende
 (DIR) Erneuerbare Energien
 (DIR) Erneuerbare
 (DIR) Energiepolitik
 (DIR) Lesestück Recherche und Reportage
 (DIR) Erneuerbare Energien
 (DIR) Energiekrise 
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Energiewende: Bohren für die Wärmewende
       
       Berlin bereitet sich auf die Energie- und Wärmewende vor. Die Geothermie
       soll einen wesentlichen Beitrag zur grünen Wärmeversorgung liefern.
       
 (DIR) Globale Energiewende: Wo klappt es mit dem grünen Strom?
       
       Der Solar- und Windausbau ist ein quälend langsames Projekt? Muss nicht
       sein. Ein neuer Datensatz zeigt, in welchen Ländern die Stromwende gelingt.
       
 (DIR) Wärme- statt Erdgasförderung: Gasbohren hatte doch einen Sinn
       
       Aus einen ehemaligen Erdgasbohrloch will die niedersächsische Gemeinde
       Munster künftig Erdwärme fördern. Das könnte ein Modell fürs ganze Land
       sein.
       
 (DIR) Wärmewende aus der Tiefe: Der Clou von Schwerin
       
       Am Heizkraftwerk in Schwerin entsteht die Wärmeversorgung der Zukunft: eine
       klimaneutrale Anlage für Erdwärme. Die hohen Gaspreise sorgen für einen
       Aufschwung der Technik.