# taz.de -- Regisseur Ira Sachs über Film „Passages“: „Genauigkeit funktioniert besser“
       
       > Ira Sachs erzählt in seinen Filmen von komplexen Liebesbeziehungen, so
       > auch in „Passages“. Der Regisseur über epische Sexszenen und Vorzüge von
       > Henry James.
       
 (IMG) Bild: Sehr intim: Franz Rogowski und Adele Exarchopoulos in „Passages“
       
       Von Liebesbeziehungen in all ihrer Komplexität, ob queer oder hetero,
       erzählt US-Regisseur Ira Sachs immer wieder, ob in „Married Life“, „Keep
       the Lights On“ oder „Liebe geht seltsame Wege“. Sein neuer Film,
       [1][„Passages“, der im Frühjahr auf der Berlinale Premiere feierte],
       handelt von den emotionalen Komplikationen, die entstehen, als ein
       Regisseur (Franz Rogowski) seinen Mann (Ben Whishaw) mit einer Frau (Adèle
       Exarchopoulos) betrügt. 
       
       taz: Mr Sachs, im Zentrum Ihres neuen Films „Passages“ steht ein Regisseur.
       Gaben womöglich persönliche Erfahrungen den Ausschlag für diese Geschichte? 
       
       Ira Sachs: Nein, den Anfang nahm dieser Film mit Franz Rogowski. Den sah
       ich zum ersten Mal in [2][Michael Hanekes „Happy End“] und fand ihn in
       seiner Rolle dort unglaublich an- und aufregend. Er weckte meine Neugier
       und faszinierte mich so sehr, dass ich unbedingt mit ihm arbeiten wollte.
       Also schrieben Mauricio Zacharias und ich das Drehbuch zu „Passages“
       dezidiert für ihn. Dass wir uns dabei für eine Dreiecksgeschichte
       entschieden, hatte vor allem strukturelle Gründe. Aber mich interessierte
       auch der Gedanke, wie Begierde von einem Moment auf den nächsten umschlagen
       beziehungsweise sich verschieben kann.
       
       So wie bei dem von Rogowski gespielten Tomas, der eigentlich mit einem Mann
       verheiratet ist, aber dann eine Affäre mit einer Frau beginnt … 
       
       Genau diese Geschichte habe ich persönlich nicht erlebt. Aber ich habe
       andere Erfahrungen gemacht, die mir vor Augen geführt haben, dass das
       Begehren und damit auch unsere jeweilige sexuelle Identität nicht zwingend
       etwas Festgelegtes sind. Zum Beispiel erinnere ich mich noch daran, wie ich
       einmal Luchino Viscontis „Die Unschuld“ sah und sich mein Interesse
       irgendwann von Giancarlo Giannini auf Laura Antonelli verlagerte. Mich
       irritierte das zunächst, schließlich bin ich ein schwuler Mann. Doch das
       ist eben der springende Punkt: All diese Sachen sind nicht in Stein
       gemeißelt.
       
       Also ist Tomas in gewisser Weise womöglich doch Ihr Alter Ego? 
       
       Sagen wir es mal so: Mir ist nach der Arbeit an „Passages“ klar geworden,
       dass letztlich alle meine Filme davon handeln, was Männer in irgendeiner
       Form von Machtposition mit ebendieser Macht machen und welche Konsequenzen
       sich daraus ergeben. Und genau dieser Aspekt der Figur Tomas ist der, wo
       ich am ehesten anknüpfen kann. Denn auch ich weiß, welchen Schaden ich als
       weißer Mann anderen Menschen zufügen kann. Zugleich fühle ich aber auch
       eine große Nähe zu seinem von Ben Whishaw gespielten Partner Martin. Am
       Ende des Films sagt der: „Ich habe einfach kein Interesse mehr an dir!“ Den
       Satz finde ich selbst ziemlich gut, wenn ich das so sagen darf, und dieses
       Gefühl habe ich in einer früheren, psychisch enorm aufreibenden Beziehung
       selbst schon so empfunden.
       
       Wir sprachen gerade von der Fluidität der Identitäten, die in Ihrem Film
       mit viel Selbstverständlichkeit verhandelt wird. Dass Tomas sich statt in
       einen anderen Mann in eine Frau verliebt, ist jedenfalls nicht der
       eigentliche Konflikt, richtig? 
       
       Daraus den springenden Punkt zu machen, hätte ich eher uninteressant
       gefunden. Nachdem ich Franz auch tatsächlich in der Rolle, die ich mit ihm
       im Kopf geschrieben hatte, besetzt hatte, stand diese Fluidität automatisch
       im Raum. Er personifiziert sie geradezu. Warum hätten wir unnötige Worte
       darüber verlieren sollen, wenn jeder durch seine Präsenz automatisch spürt,
       dass da ein Mann ist, dessen Leidenschaft nicht nur in eine Richtung
       fließt?
       
       Ganz zu schweigen davon, dass wir als Publikum ja in eine langjährige
       Beziehung hineinplatzen, in der beide Partner sich enorm gut kennen und
       vieles gar nicht mehr ausgesprochen werden muss. Wie machen Sie als
       Regisseur diese Vertrautheit greifbar? 
       
       Da muss man einfach in den Details sehr spezifisch werden. Requisiten,
       Locations, Kostüme – all das muss Zeugnis geben von der langen Geschichte
       dieser beiden. Aber natürlich spielt auch die Art und Weise, wie der Film
       geschrieben ist, da eine Rolle. Im Grunde besteht unser Drehbuch nämlich
       aus einer Aneinanderreihung von Mittelteilen. All die Beziehungen und
       Konflikte werden nicht eingeführt, sondern sind längst da, und als
       Zuschauer*in wird man zwar eingeladen, davon Zeuge zu werden, aber man
       bleibt auch außen vor, weil man eben nicht von Beginn an mit dabei ist. Das
       ist etwas, das ich in den Filmen von Maurice Pialat kennengelernt habe.
       
       Dem französischen Regisseur, der in den 70er und 80er Jahren für Filme wie
       „Wir werden nicht zusammen alt“, „Auf das, was wir lieben“ und „Die Sonne
       Satans“ verantwortlich zeichnete. 
       
       In dessen Werken hat man nie das Gefühl, dass es diese klassische Struktur
       aus Anfang, Mittelteil und Schluss gibt. Als Zuschauer*in stößt man in
       dem Moment zur Geschichte, wo man hereingelassen wird. Und mit dem nächsten
       Schnitt wird man wieder hinausgeworfen.
       
       Die Sorge, dass das Publikum auf die eine oder andere Weise nicht mitkommt,
       haben Sie nie? 
       
       Ob eine fiktionale Geschichte funktioniert, hat für mich vor allem mit
       ihrer Genauigkeit zu tun. Mit Funktionieren meine ich: Die dargestellten
       zwischenmenschlichen Beziehungen gehen die Zuschauer*innen oder eben
       Leser*innen etwas an und wecken Interesse. Und die Genauigkeit bedeutet
       für mich, dass ich die Welt meiner Figuren mit größtmöglicher Präzision
       entwerfen muss.
       
       Meine eigenen Erfahrungen, sowohl als Filmemacher als auch als Konsument
       einer Geschichte, haben mir gezeigt, dass es zu viel Spezifisches nicht
       gibt – und Gründlichkeit und Details nur umso mehr dazu beitragen, beim
       Publikum Resonanz zu erzeugen. Die Romane von Henry James sind da für mich
       das beste Beispiel. Der hat unglaublich spezifisch über die Menschen zu
       seiner Zeit geschrieben, kein bisschen pauschal, und gerade deswegen
       bedeuten sie mir auch 150 Jahre nach Entstehung noch wahnsinnig viel.
       
       Ähnliches ließe sich vielleicht auch über Sie sagen. Der schon erwähnte Ben
       Whishaw zum Beispiel hat mit Bewunderung darüber gesprochen, wie präsent
       Sie mit Ihrer Identität als queerer Filmemacher in all Ihren Werken sind,
       unmittelbar und ohne Umschweife. Frustriert es Sie mitunter, wenn andere
       heutzutage das Queere in ihrer Kunst eher verwässern, um möglichst
       niemanden vor den Kopf zu stoßen? 
       
       Ach, wissen Sie, als Regisseur finde ich meine Inspiration eher bei
       Kolleg*innen, die vor mir kamen, als bei meinen Zeitgenossen. So war im
       Fall von „Passages“ [3][Frank Ripplohs „Taxi zum Klo“] ein enorm wichtiger
       Film. Er zeigte mir, was alles möglich sein kann. Die Geschichte der
       Bildsprache des Kinos ist nicht unbedingt die eines kontinuierlichen
       Fortschritts, und wir machen uns heute die gegenwärtigen Zwänge und
       Rückschritte viel zu wenig bewusst.
       
       Die Globalisierung und das Sprechen über Subkultur und marginalisierte
       Communitys stehen sich gegenseitig im Weg, und wir könnten an dieser Stelle
       stundenlang über das Ausbalancieren von Kunst und Ökonomie sprechen. Aber
       mit dem richtigen Instinkt und Geschick kann ich zum Glück auch heute noch
       Filme so drehen, wie sie mir entsprechen. Über die anderen zerbreche ich
       mir da weniger den Kopf.
       
       Zu den Charakteristika, die „Passages“ ausmachen, gehören auch sehr
       offenherzige, authentische Sexszenen. Auch etwas, wovor viele Filme heute
       oft zurückschrecken … 
       
       Sie sind auch schwer umzusetzen, weil da aus narrativer Sicht oft wenig
       passiert. Bei mir spielen sie nun auch nur eine so zentrale Rolle, weil es
       den Schauspieler*innen gelang, echte Handlung in den Sexakt zu
       integrieren. Was Franz, Ben und Adèle Exarchopoulos aus diesen Szenen
       machen, ist ungemein eindrücklich und geht weit darüber hinaus, einfach
       zwei Menschen beim Sex zu sehen. Deswegen sind sie auch so lang geraten.
       
       Der Film ist so dominiert von Anspannung, Atmosphäre und Ungewissheit,
       dass ich es reizvoll fand, wie diese ausführlichen Sexszenen der Sache
       noch mal einen eigenen Stempel aufdrücken. Sie sind Unterbrechung und
       Eskalation der Handlung gleichermaßen und in ihrer Wirkung sowohl sexy wie
       verstörend. Deswegen fand ich sie hier in jedem Fall wichtig.
       
       30 Aug 2023
       
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