# taz.de -- Neues Seenotrettungsschiff „Sea-Watch 5“: Retten ist Übungssache
       
       > Die Crew der „Sea-Watch 5“ bereitet sich und das neue Schiff auf die
       > Seenotrettung im Mittelmeer vor. Bevor es losgeht, wird der Ernstfall
       > geübt.
       
 (IMG) Bild: Bald geht's aus norddeutscher Trübnis ins Mittelmeer: die Sea-Watch im Flensburger Hafen
       
       FLENSBURG taz | An Deck der „Sea-Watch 5“ stehen 314 Menschen und warten
       darauf, evakuiert zu werden. Denn deswegen sind sie alle zum Harniskai in
       den Flensburger Hafen gekommen. Die Aktion ist ein weiterer Schritt, um das
       neue Schiff des Vereins Sea-Watch für die zivile Seenotrettung im
       Mittelmeer bereit zu machen.
       
       In wenigen Monaten werden hier Menschen an Bord sitzen, die ihr Leben mit
       der Flucht über das Mittelmeer riskieren, weil es keine sicheren und
       legalen Fluchtwege nach Europa gibt. Dabei sind in der ersten Jahreshälfte
       bereits 1.874 Menschen gestorben oder werden vermisst – so viele wie seit
       2017 nicht mehr. Das geht aus Daten des [1][„Missing Migrants Project“]
       der UN-Organisation für Migration (IOM) hervor.
       
       An diesem Tag im August sind junge Menschen, Studierende, Rentner*innen
       und Familien da, um das Sea-Watch-Team bei einer wichtigen Übung zu
       unterstützen. Freiwillig, unentgeltlich, nur um der guten Sache willen.
       
       Das Ziel: Alle Freiwilligen und die 31-köpfige Crew sollen innerhalb von 30
       Minuten sicher von Bord gebracht werden. Dann erhält die Besatzung ein
       Zertifikat, das bestätigt: In Notfällen wie Feuer oder Schlagseite können
       sie schnell reagieren und die Menschen in Sicherheit bringen.
       
       ## Schon 45.000 Menschen gerettet
       
       Der gemeinnützige Verein Sea-Watch, der sich komplett durch Spenden
       finanziert, ist seit seiner Gründung 2015 mit Rettungsschiffen auf dem
       Mittelmeer im Einsatz. Seit 2020 fliegt er auch mit Aufklärungsflugzeugen.
       Mit rund 100 Angestellten und mehr als 500 Aktivist*innen war Sea-Watch
       laut eigenen Angaben bislang an der Rettung von über 45.000 Menschen
       beteiligt.
       
       Über die Jahre ist der Verein gewachsen: Die Schiffe „Sea-Watch 1, 2 und 4“
       wurden an die Organisationen [2][Mare Liberum], [3][Mission Lifeline] und
       [4][SOS Humanity] weitergegeben. Die „Sea-Watch 3“ war seit 2017 im Einsatz
       – und ist nun so sehr in die Jahre gekommen, dass die „Sea-Watch 5“ sie
       ablösen soll.
       
       Lorenz, ausgebildeter Krankenpfleger, kennt die „Sea-Watch 3“ von Anfang
       an. Als das Schiff 2017 umgebaut wurde, bekochte er die freiwilligen
       Handwerker:innen. Noch im gleichen Jahr trat der heute 33-Jährige seinen
       ersten Einsatz auf See an. Seit rund zwei Jahren ist er beim Verein fest
       angestellt.
       
       Am Tag der Evakuierungsübung trägt Lorenz einen roten Helm und einen
       dunkelblauen Sea-Watch-Overall. Er stellt sich auf eine Treppe und hält
       sich ein Megafon vor das Gesicht. Sein Kopf verschwindet fast ganz
       dahinter, aber umso besser ist seine klare Stimme zu hören: „Ich bin Guest
       Coordinator an Bord“, stellt er sich den Gästen vor. Er fragt, ob alle
       Englisch verstehen, denn das ist die Schiffssprache. Dann beginnt er zu
       erklären, wie der Alltag auf der „Sea-Watch 5“ aussieht: „Es gibt einen
       sicheren Raum für Frauen und Kinder“, sagt Lorenz, „und wenn irgendwas ist,
       mit dem Essen, der Wärme oder Kälte – egal was, könnt ihr mich ansprechen.“
       
       Auf dem Schiff ist Lorenz für die Verteilung von Essen und Kleidung sowie
       für die Kommunikation mit den Gästen zuständig. „Ich kümmere ich mich um
       alle alltäglichen Fragen an Bord“, fasst Lorenz seinen Job zusammen.
       
       Als er 2017 bei Sea-Watch anfing, war die Zeit auf See meist 24 bis 48
       Stunden lang, wie er erzählt. Mittlerweile sind sie aber auch mal zwischen
       einer und drei Wochen auf dem Schiff, bis die europäischen Küstenwachen die
       Seenotretter einlaufen lassen. „Es gibt dann für die Gäste keine
       Rückzugsmöglichkeiten, die Zustände sind sehr beengend.“
       
       Das wird bei der Übung ansatzweise sichtbar: Er bittet alle, sich einmal
       auf dem Deck hinzulegen. Damit möchte Lorenz einen Eindruck davon gewinnen,
       wie gut sich viele Menschen auf dem Boot ausruhen können. Noch passt es
       gerade so – und doch muss die Crew mit mehr Menschen rechnen, die an Deck
       Platz finden müssen.
       
       Eine weitere Herausforderung: Langeweile. Sie triggert Frust und Angst,
       erklärt Lorenz. „Wir haben Instrumente und Kartenspiele an Bord oder bieten
       kleine Sprachkurse an.“ Lorenz’ längste Zeit auf dem Meer: 17 Tage mit der
       [5][Kapitänin Carola Rackete] 2019, als kein sicherer Hafen die Besatzung
       und die 53 geretteten Menschen aufnehmen wollte – trotz Notsituation.
       
       Während der Evakuierungsübung ziehen immer wieder Schauer über den Hafen.
       Windböen lassen das dicke Zeltdach auf dem großen Deck, das die Gäste vor
       dem Wetter schützen soll, gegen die Metallstreben knallen. Auf dem Wasser
       bauen sich Schaumkronen auf – von der Gischt bekommen die
       Besucher*innen aber nur ganz gelegentlich ein paar feine Tröpfchen ab,
       denn das breite Deck liegt gut geschützt im hinteren Teil der 58 Meter
       langen „Sea-Watch 5“. Sie ist ein ehemaliges Versorgungsschiff für Wind-
       und Ölplattformen. Lorenz erzählt: „Wir haben uns eine Checkliste erstellt:
       Was braucht unser neues Schiff?“ Dabei seien sie auf diesen speziellen
       Schiffstyp gestoßen.
       
       2022 hat der Verein das Schiff für 4,5 Millionen Euro gekauft. Im November
       wurde die „Sea-Watch 5“ [6][in Hamburg getauft], ihrem neuen Heimathafen.
       Seitdem hat sich einiges getan: Nach größeren Werftarbeiten in Dänemark
       fuhr die „Sea-Watch 5“ nach Flensburg. Seitdem arbeiten pro Tag
       durchschnittlich vierzig Helfer*innen daran, das Schiff für den Einsatz
       umzubauen.
       
       ## Mehr Deckfläche, bessere Technik
       
       Lorenz sieht in der „Sea-Watch 5“ viele Vorteile gegenüber den
       Vorgängerinnen: „Das Schiff ist deutlich neuer, hat noch bessere Technik
       und mehr Deckfläche sowie ein größeres Krankenhaus und einen größeren
       Aufenthaltsraum für Frauen und Kinder.“ Lorenz zufolge könnte die große
       Deckfläche aber auch eine neue Herausforderung werden: „Bei der ‚Sea-Watch
       3‘ waren das zwei Decks. Wie wird sich eine einzelne, große Menschenmenge
       verhalten?“
       
       Bei der Übung hat die Crew die Menge auf jeden Fall gut im Griff. Als die
       Glocken für die Evakuierung klingeln, macht Lorenz Ansagen durch das
       Megafon und beruhigt: „Es gibt ein Feuer im Maschinenraum, die Crew kümmert
       sich und wir warten nun auf weitere Informationen.“ Schnell ziehen sich
       alle die verteilten Rettungswesten über und stellen sich in Reihen auf.
       
       Die Übung ist neu für die Besatzung – und irgendwie auch nicht, wie Lorenz
       sagt: „Was wir bei der Evakuierung gemacht haben, machen wir ja sonst
       umgekehrt: Leute schnell an Bord nehmen. Das ist absolut lebenswichtig für
       jede Rettung.“ Rechtlich ist die Übung nicht verpflichtend. „In der
       Vergangenheit hatten wir oft größere Personengruppen an Bord, darum haben
       wir uns aus Sicherheitsgründen entschieden, die Übung durchzuführen“, sagt
       Oliver Kulikowski, Sprecher von Sea-Watch.
       
       An der Ausstattung und an der Sicherheit des Schiffes sollte ohnehin nichts
       sein, was kritisiert werden könnte, nicht nur aus Sicherheitsgründen, sagt
       Kulikowski: „In letzter Zeit wurden wir im Einsatz auf dem Mittelmeer
       vermehrt von Behörden festgesetzt.“ Das sei zwar auch politisch motiviert
       gewesen, „aber in solchen Fällen geht es auch darum, den Behörden möglichst
       keine Angriffsfläche zu geben“.
       
       Die gesamte Evakuierung klappt – sogar acht Minuten unter der geplanten
       Zeit. Eine Gruppe wird auf ein Ponton und ein Rettungsfloß geleitet, die
       andere über die Gangway zurück auf die Kaimauer, auf aufgemalte
       Rettungsinseln. Der Regen prasselt erneut los. Hier können jetzt alle nach
       rund vier Stunden wieder ins trockene Zuhause. Es bleibt allen wohl nicht
       einmal ein vages Gefühl davon, wie es ist, Tage auf dem Schiff zu warten.
       
       Auf der „Sea-Watch 5“ müssen letzte Arbeiten noch beendet werden, dann soll
       sie in den nächsten Monaten zu ihrem ersten Einsatz im Mittelmeer ablegen.
       Lorenz wird wieder dabei sein: „Gerade jetzt loszufahren und sich von den
       [7][Entwicklungen in Italien] und Europa nicht einschüchtern zu lassen, ist
       ein extrem wichtiges Symbol gegen die gesamte erstarkende Rechte.“
       
       23 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean
 (DIR) [2] /Menschenrechtsverein-gibt-auf/!5928738
 (DIR) [3] /Flucht-ueber-das-Mittelmeer/!5904481
 (DIR) [4] /Vorwuerfe-gegen-Italien-bei-EU-Kommission/!5944839
 (DIR) [5] /Carola-Rackete-ueber-ihre-EU-Kandidatur/!5945305
 (DIR) [6] /Juengstes-Schiff-fuer-die-Seenotrettung/!5892917
 (DIR) [7] /Italien-erlaesst-Dekret-zur-Seenotrettung/!5897423
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Emily Kietsch
       
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