# taz.de -- 50 Jahre Militärputsch in Chile: Allendes Kultur und Brugnolis Werk
       
       > Als Textilkünstlerin war Paulina Brugnoli Zeugin des gesellschaftlichen
       > Aufbruchs 1970 in Chile – und des Putsches am 11. September 1973.
       
 (IMG) Bild: Textilkünstlerin Paulina Brugnoli im taz-Gespräch im Garten ihres Hauses in Santiago de Chile
       
       Noch heute fehlt jede Spur von dem geometrisch gestalteten Wandteppich, den
       die Textilkünstlerin Paulina Brugnoli 1972 für die Eröffnung des „Unctad
       III“- Gebäudes in Santiago de Chile entwarf. Chile war das Gastgeberland
       der 3. Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung.
       
       Der Regierung Präsident Salvador Allendes gelang es in nur 275 Tagen, das
       emblematische Bauwerk in kollektiver Kraftanstrengung fertigzustellen. Es
       sollte stellvertretend für den kulturellen Aufbruch unter Allende und der
       Unidad Popular stehen.
       
       Auch zahlreiche chilenische Künstlerinnen und Künstler beteiligten sich mit
       Skulpturen, Wandgemälden, Licht- und Glasinstallationen an dem
       vielversprechenden Projekt. Unter ihnen auch Paulina Brugnoli. „Ich wurde
       eingeladen“, sagt sie bei einem Treffen in Santiago. „Und ich bin
       erschienen, ich hatte sogar meinen kleinen Sohn dabei und sagte zu. Ich
       habe die Verträge unterschrieben und bin voller Ideen gegangen. Ich hatte
       zuvor nie etwas so Großes gewebt.“
       
       Im Anschluss an die UN-Konferenz wurde der moderne Bau im Mai 1972 dem
       Bildungsministerium übertragen. Das Centro Cultural Metropolitana Gabriela
       Mistral bot nun Bürgerinnen und Bürgern Versammlungs- und
       Ausstellungsräume, Kinosaal, Bibliothek sowie ein Kasino.
       
       ## Alles war offen
       
       Lebendig erinnert sich die heute 83-jährige Weberin an die einladende
       Architektur des Kulturzentrums. „Alles war offen. Du hast die Straße
       dahinter gesehen und die Gärten. Die Leute gingen ein und aus, besuchten
       das Kino, die Ausstellungen, das Kasino. Es war schön.“
       
       Paulina Brugnoli, 1940 geboren, wuchs in einer bürgerlich-konservativen
       Familie italienischer Einwanderer in Santiago auf. Gegen den Widerstand
       ihrer Eltern studierte sie zunächst Malerei, später Tanz an der Universidad
       de Chile.
       
       Dort an der Schule für angewandte Künste entdeckte sie ab 1964 die Webkunst
       in der Werkstatt von Margarita Johow, ihrer späteren Mentorin. Auf dem
       Kunstmarkt in Santiago, im Parque Forestal, lernte Brugnoli dann 1966 eine
       Gruppe von Weberinnen aus dem nördlichen Chapilca kennen. Die junge
       Textilkünstlerin war fasziniert von deren prähispanisch geprägter
       Webtechnik.
       
       In den folgenden drei Jahren reiste sie regelmäßig in das entlegene Dorf im
       Valle del Elqui, um die lokale Webtradition zu erforschen und mit den
       Kunsthandwerkerinnen zu kooperieren. Dieses Interesse für die Traditionen
       andiner Webkunst begleitet seither ihr konzeptionelles Werk und verbindet
       sich mit Einflüssen der klassischen Moderne.
       
       ## Ästhetische Neuausrichtung
       
       Auch die offizielle Kulturpolitik der Unidad Popular bemühte sich seit 1970
       um mehr Sichtbarkeit volksnaher Kultur und von regionalem Kunsthandwerk. So
       betonte Präsident Allende bei der Übergabe des Unctad-Gebäudes am 17. Mai
       1972 „… wir wollen, dass die Kultur nicht das Erbe einer Elite ist, sondern
       dass zu ihr rechtmäßigen Zugang haben die bis heute übersehenen und
       übergangenen großen Massen, vor allem die Arbeiter auf dem Land, in den
       Fabriken, in den Unternehmen oder an der Küste.“
       
       Beispielhaft für diese ästhetische Neuausrichtung war auch die Teilnahme
       der Stickerinnen der Isla Negra an der Ausstellung im Unctad-Gebäude. Ihr
       kollektiv gefertigter, fast acht Meter breiter Wandteppich fügte
       unterschiedliche Szenen und Landschaften vom chilenischen Alltag auf dem
       Land, am Meer oder in den Minen in einer den Frauen der Dorfgemeinschaft
       eigenen Dramaturgie und Ästhetik zusammen.
       
       Paulina Brugnoli kann sich noch gut an das außergewöhnliche Patchwork
       erinnern. „Ich habe diesen Wandteppich damals live gesehen und ich glaube,
       es war das Werk, das mich am meisten beeindruckt hat. Es war so kraftvoll.
       Außerdem war es die einzige Arbeit in dem Saal. Es gab nichts, was einen
       ablenkte. Man konnte kommen und gehen und bleiben.“
       
       ## Putsch und Zerstörung
       
       Doch als am 11. September 1973 das chilenische Militär putschte und General
       Augusto Pinochet den Regierungssitz La Moneda bombardieren ließ, wurde auch
       das unter Salvador Allendes Präsidentschaft errichtete Kulturzentrum
       beschlagnahmt, die Kunstwerke wurden zerstört oder geplündert – unter ihnen
       auch jene großformatige Arbeit der Stickerinnen der Isla Negra.
       
       Umbenannt in „Edificio Diego Portales“, verwandelte sich der einst offene
       Ort im Zentrum Santiagos in ein abweisend umzäuntes Quartier der
       Militärregierung.
       
       „Aber das Schrecklichste war, dass Menschen, Freunde verschwunden sind.
       Einer meiner Brüder wurde inhaftiert, gefoltert, ein anderer und mein
       eigener Mann verfolgt. Jeden Tag, viele Jahre lang lebten wir in großer
       Gefahr“, unterstreicht Brugnoli beim Gespräch in ihrem schattigen Garten im
       Stadtteil Independencia.
       
       Während der Diktatur und in der ersten Zeit der Transición ab 1989, wurde
       die Geschichte des Unctad-Gebäudes verdrängt. Die verschwundenen Kunstwerke
       gerieten in Vergessenheit. „Für uns, die wir direkt betroffen waren, war
       das eine Art Grab.“
       
       ## Wiederaufbau und Erinnerung
       
       Erst nach einem verheerenden Brand im Edificio Diego Portales 2006
       beschloss die Regierung Michelle Bachelets, an dem Originalschauplatz das
       Centro Cultural Gabriela Mistral wieder aufzubauen. 2014 eröffnet das neu
       errichtete GAM und bereitet den Weg für eine öffentliche Auseinandersetzung
       mit dem 1973 gewaltsam beendeten Projekt eines gesellschaftlich-kulturellen
       Aufbruchs.
       
       Einige der Originalwerke wie das farbig gestaltete Glasdach von Juan Bernal
       Ponce oder die geflochtenen Fische des Korbflechters Alfredo Manzano werden
       für den Neubau rekonstruiert.
       
       Überraschend tauchten in den vergangenen Jahren aus dem Gebäude 1973
       entwendete Textilarbeiten der Malerinnen Gracia Barrios und Roser Bru auf.
       Auch der verloren geglaubte großformatige Wandteppich der Frauen von Isla
       Negra wurde 2019 zurückgegeben.
       
       Seine Vorbesitzer hatten ihn in den 1980er Jahren wohl auf einem Flohmarkt
       erstanden. Sorgfältig restauriert wird das symbolträchtige Werk nun wieder
       im rekonstruierten Kulturzentrum auf der Alameda ausgestellt.
       
       ## Der Estallido von 2019
       
       [1][Unerwartet setzte im Oktober 2019 der „Estallido“], die soziale
       Revolte, einen gesellschaftlichen Transformationsprozess in Chile in Gang.
       Nur wenige hundert Meter von dem historischen Unctad-Gebäude entfernt,
       verwandelte sich die Plaza Dignidad in einen zentralen Schauplatz des
       Widerstands. Auf [2][Demonstrationen im ganzen Land] wurde Textilkunst zu
       einem bestimmenden Ausdrucksmittel der Proteste.
       
       Die bestickten, aus Stoff gestalteten Transparente stellten einen Dialog
       mit der Vergangenheit her. Mit anderen Inhalten und einer neuen Bildsprache
       erinnerten sie an das Vermächtnis der Arpilleristas, an jene mutigen
       Frauen, die während der Militärdiktatur das Unrecht in textilen Bildern aus
       Stoffresten festgehalten hatten.
       
       Die gesellschaftlichen Ereignisse in Chile haben [3][ein neues Interesse an
       kollektiven Praktiken und visionären Projekten] der jüngeren Geschichte
       geweckt. Nach Jahren der Unsichtbarkeit erfahren die Beiträge der
       Textilkünstlerinnen der „Unctad III“ nun retrospektive Aufmerksamkeit und
       kunsthistorische Anerkennung. So präsentierte die Ausstellung „Tejido
       social. Arte textil y compromiso político“ (Soziales Gewebe. Textile Kunst
       und politisches Engagement) 2020 in Santiago auch Arbeiten von Brugnoli,
       Barrios, Bru und den Stickerinnen der Isla Negra.
       
       Leider lassen die Augen Paulina Brugnoli zunehmend im Stich. In ihrem
       Arbeitsraum webt sie nur noch kleine Formate. Doch sie freut sich über das
       erwachte Interesse und den Austausch mit jüngeren Textilkünstlerinnen wie
       Dani Negri. Die 83-Jährige ist überzeugt: „Der Estallido hat den Blick in
       die Vergangenheit geöffnet.“
       
       Eva-Christina Meier ist Co-Herausgeberin der zweisprachigen Anthologie
       [4][„Chile International II. Skizzen des Südens – Landkarten von morgen“],
       Berlin 2022
       
       1 Sep 2023
       
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