# taz.de -- Aiwanger und die Folgen: Eine Zukunft, vor der mir graut
       
       > Geschichtsrevisionismus hat das Land fest im Griff. Von Aiwanger und
       > Söder bis zur AfD wird die Nazivergangenheit als gar nicht so schlimm
       > entsorgt.
       
 (IMG) Bild: Söder grinst von seinem Wahlplakat, das muss reichen
       
       Der Herbst bricht langsam an, jedenfalls in Bayern, wo ich die letzte Woche
       war. Grauen Himmel und graue Gesichter gab es hier auf Plakaten für die
       Landtagswahl Anfang Oktober. Vor dem Hotel, in dem ich untergebracht war,
       hing an einer Laterne ein AfD-Plakat, nicht weit davon machten die Freien
       Wähler für sich Werbung und Markus Söder grinste irgendwo auch noch sein
       Grinch-Lächeln. Normal eben. Mir hat sich trotzdem innerlich etwas
       zugeschnürt. Gut, ich war krank. Fiebrig, Halsweh. Aber das Engegefühl lag
       weiter unten, in der Brust.
       
       Zu Bayern hatte ich schon immer ein ambivalentes Verhältnis. Seit [1][der
       Affäre um Hubert Aiwanger] jedoch brauche ich Abstand zu diesem Bundesland,
       das ist mir nach dem letzten Besuch klar geworden. Mit welchem
       Selbstbewusstsein Bayerns Vize die Vorwürfe gegen ihn abgebügelt hat, mit
       welcher Überzeugung er in der Lage war, all das als Kampagne gegen ihn zu
       verkaufen, wie er diese Erzählung auch jetzt noch weiterträgt und, wie
       kürzlich, kritische Fragen in einem [2][Interview mit der Augsburger
       Allgemeinen] nachträglich streichen lassen möchte, befremdet mich zutiefst.
       
       Seit Ministerpräsident Söder „Schwamm drüber“ verkündet hat, präsentiert
       Aiwanger gefühlt stündlich auf X neue Umfrageergebnisse, die ihn in seiner
       Arroganz und Uneinsichtigkeit bestätigen. Wenn an diesem Sonntag gewählt
       würde, kämen die Freien Wähler laut [3][BayernTrend auf 17 Prozent]! Sie
       liegen damit vor den Grünen, ein Höchstwert für die FW. In Deutschland kann
       man mit Hitlergruß-Vorwürfen und NS-verharmlosenden Flugblättern
       davonkommen – und die Wähler jubeln einem noch zu.
       
       Aiwanger hat ein erinnerungspolitisches Schlachtfeld hinterlassen. Eines,
       das der AfD ganz gelegen kommt, deren Politiker ja regelmäßig den
       geschichtspolitischen Grundkonsens infrage stellen, ganz bewusst.
       
       ## Oma und Opa
       
       Alexander Gauland, der die NS-Zeit als „nur ein Vogelschiss“ in 1.000
       Jahren deutscher Geschichte bezeichnete; ebenfalls Gauland, der 2017
       argumentierte, man müsse sich die Nazizeit nicht mehr „vorhalten“ lassen;
       Björn Höckes „Denkmal der Schande“-Rede im Januar 2017; Maximilian Krah,
       Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl, der in einem TikTok-Video
       „unsere Vorfahren“ von Verbrechen freisprach und die jungen Zuschauer
       aufforderte, herauszufinden, „was Oma und Opa, Uroma und Uropa gemacht
       haben, was sie gekämpft und gelitten haben“. Und AfD-Chefin Alice Weidel,
       mit deren Aussage jüngst im ARD-Sommerinterview, dass sie – anders als
       ihr Co-Vorsitzender Tino Chrupalla – im Mai nicht an einem Empfang in der
       russischen Botschaft in Berlin zum Jahrestag des Endes des Zweiten
       Weltkriegs teilgenommen habe, da sie die „Niederlage des eigenen Landes“
       nicht „mit einer ehemaligen Besatzungsmacht“ habe feiern wollen, ein neuer
       Höhepunkt erreicht ist.
       
       2017 veröffentlichte der neurechte Ideologe und Chefredakteur seiner
       Zeitschrift Sezession, Götz Kubitschek, den Text „Selbstverharmlosung“. Er
       spricht darin Empfehlungen für die AfD aus, um die „emotionale Barriere“
       der Wählermassen zu beseitigen. Und er plädiert darin auch für die
       „Schaffung neuer Gewohnheiten“. Politiker der AfD versuchen immer wieder,
       Grenzen zu verschieben, „in Grenzbereichen des gerade noch Sagbaren und
       Machbaren provozierend vorzustoßen“, wie es Kubitschek in seinem Text
       formuliert. Parteivertreter betreiben Schuldumkehr, zeigen offen, dass sie
       nicht bereit sind, sich mit den Verbrechen des NS-Regimes
       auseinanderzusetzen, diese überhaupt anzuerkennen und sich von ihnen
       abzugrenzen.
       
       Bricht also eine neue Zeit an? Eine Zeit der „neuen Gewohnheiten“? Ich will
       nichts überdramatisieren. Doch Geschichtsrevisionismus sitzt in Gestalt
       einer parlamentarischen Vertretung in Landtagen und im Bundestag. An neue
       Gewohnheiten gewöhnt man sich meist schneller als gedacht. Das ist es, was
       ich fürchte.
       
       16 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Antisemitismusvorwuerfe-gegen-Aiwanger/!5954835
 (DIR) [2] https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/interview-aiwanger-ueber-berichterstattung-herablassend-gegen-mich-und-die-landbevoelkerung-id67836761.html
 (DIR) [3] https://www.br.de/nachrichten/bayern/bayerntrend-rekordhoch-fuer-freie-waehler-csu-und-ampel-parteien-buessen-ein,TpcvXH8
       
       ## AUTOREN
       
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