# taz.de -- Angeblicher Handyklau: Polizei beschuldigt wild drauflos
       
       > Eine Polizistin zeigt eine Anwohnerin der Hafenstraße wegen Diebstahls
       > an. Die Anwohnerin kritisiert rassistische Zustände und bekommt Recht.
       
 (IMG) Bild: Tatort oder kein Tatort? Hier soll die Beschuldigte der Polizistin das Handy geklaut haben
       
       HAMBURG taz | Wenn plötzlich das eigene Handy weg ist, kann man schon mal
       nervös werden. Dafür habe sie vollstes Verständnis, erklärt die Richterin
       am Hamburger Amtsgericht der Polizistin. Auch, dass man sich ein Jahr
       später nicht mehr genau daran erinnern könne, wie sich eine Situation
       zugetragen habe, sei normal. „Aber wir müssen hier schon versuchen
       nachzuvollziehen, wie der Tathergang gewesen sein könnte“, sagt die
       Richterin. Und wenn es gar keine Tat gab?
       
       Was es auf jeden Fall gab: Einen Polizeieinsatz in der Hafenstraße auf St.
       Pauli am 22. Juni 2022. Einen Einsatz, von dem man sagen könnte, dass er
       nach [1][Schema F der „Task Force Drogen]“ lief: Mehrere Polizist*innen
       nehmen unter Gewalt einen aus Westafrika geflüchteten Mann fest, weil sie
       ihn verdächtigen, mit Drogen zu handeln. Anwohner*innen bekommen die
       Situation mit, protestieren dagegen und versuchen, das Geschehen zu
       dokumentieren.
       
       Gegen neun Uhr abends hatten fünf bis sieben Polizist*innen einen
       Schwarzen Mann auf einer kleinen Treppe vor einem der Hafenstraßenhäuser
       umringt. So geht es aus der Akte hervor, die in der Verhandlung gegen die
       Anwohnerin Martina Austen als Grundlage dient. Der Mann wehrte sich und
       wollte weglaufen. Mehrere Zivilpolizist*innen kamen hinzu, darunter
       auch die 27-jährige Polizistin R.
       
       Nachdem der Mann fixiert worden sei und sie von ihm abgelassen habe, habe
       R. gemerkt, dass ihr Handy nicht mehr in ihrer linken Gesäßtasche war.
       Geschockt habe sie ihre Kollegin gebeten, das Telefon anzurufen. Daraufhin
       habe sie gesehen, dass eine Anwohnerin, die direkt neben ihr stand und
       zuvor das Geschehen gefilmt habe, es in der Hand hielte – die Beschuldigte
       Martina Austen.
       
       ## An der Jacke gespürt
       
       Auf die Aufforderung, Austen solle das Handy herausrücken, habe diese sich
       zunächst geweigert. Als R. drohte, sie zu durchsuchen, habe Austen ihr das
       Handy doch gegeben. R. zeigte Austen wegen Diebstahls an. Die
       Staatsanwaltschaft stellte einen Strafbefehl über 1.600 Euro aus. Austen
       wollte nicht zahlen. Sie habe das Handy nicht klauen wollen, gab sie den
       Ermittler*innen an.
       
       Sie habe das Telefon bei der Festnahme auf dem Boden liegen sehen und
       gedacht, es gehörte dem Geflüchteten. Sie habe es aufgehoben, um es ihm
       später wiederzugeben. Als es geklingelt habe, sei sie rangegangen und habe
       „Hello?“ gesagt – in der Annahme, dass sich eine mit dem Geflüchteten
       befreundete, wahrscheinlich englischsprachige Person melde.
       
       Daran, dass Austen sich das Telefon ans Ohr gehalten habe, erinnern sich
       vor dem Gericht weder die Polizistin R. noch ein zweiter als Zeuge
       geladener Polizist. Auch ob und wie der Festgenommene zu Boden oder gar von
       der Treppe geworfen wurde, und wie viele Menschen in welcher Entfernung
       gestanden hätten – das alles wissen sie nicht mehr. „Es herrschte Gewusel“,
       bekräftigen sie mehrmals.
       
       R. ist sich zwar sicher, etwas an ihrer Jacke gespürt zu haben, bevor sie
       feststellte, dass das Telefon weg war. Für sie folgt daraus: Das war
       Austen, die ihr das Telefon klaute. „Wer stand denn noch nah bei Ihnen?“,
       fragt die Richterin. „Niemand“, antwortet R. „Haben Sie sich denn
       umgeguckt?“, will die Richterin wissen. „Während der Festnahme nicht“, gibt
       R. zu. „Aber man kennt sich ja von den Kontrollen auf St. Pauli“, versucht
       sie ihre Aussage zu retten. Doch so leicht macht es ihr die Richterin
       nicht. „Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun“, merkt sie an.
       
       Austen will am Dienstag vor dem Gericht nichts zum Sachverhalt sagen. Zu
       den Zuständen auf St. Pauli allerdings schon: „Unzählige Male musste ich
       miterleben, wie vor meiner Haustür Polizist*innen auf Schwarzen Männern
       knieten, während diese vor Schmerzen wimmerten“, sagt die Anwohnerin. „Was
       ich hier tagtäglich erlebe, ist die [2][Fortführung der rassistischen
       Migrationspolitik Europas].“
       
       Die Bekämpfung der öffentlich wahrnehmbaren Drogenkriminalität – so lautet
       der Auftrag der polizeilichen Task Force – habe Ausmaße angenommen, die
       Austen, die seit 20 Jahren auf St. Pauli wohnt, früher nie für möglich
       gehalten hätte. „Es ist eine anti-Schwarze, rassistische Polizeiarbeit im
       Kontext der fortschreitenden Gentrifizierung des Stadtteils“, sagt Austen.
       
       „Sie steht im Zusammenhang mit der autoritären Drogenpolitik und der
       tödlichen europäischen Abschottungspolitik.“ Auch die Repression der
       Anwohner*innen, die diese Zustände nicht hinnehmen wollten, sei in diesem
       Kontext zu verstehen.
       
       Die Richterin signalisiert Zustimmung. Sie habe Verständnis für Austens
       Engagement gegen eine ungerechte Polizeiarbeit, sagt sie. Ebenso verstehe
       sie aber auch, dass Polizist*innen ihren Job machen müssen. Das alles
       sei aber nicht Gegenstand des Verfahrens. Hier gehe es lediglich darum, ob
       Austen das Handy geklaut habe. Dafür spreche wenig, findet sie.
       
       ## Anzeige wegen Filmens
       
       „Das Telefon zu klauen und dann am Tatort zu bleiben, und sogar noch
       ranzugehen, wenn es klingelt, wäre so dumm, dass ich es für sehr
       unwahrscheinlich halte“, sagt die Richterin. Zudem erschließe sich ihr
       nicht, wie Austen überhaupt hätte wissen können, wo die Polizistin ihr
       Telefon aufbewahrt. Die Beschuldigte sei ja damit beschäftigt gewesen, das
       Geschehen zu filmen.
       
       Apropos filmen – die Anzeige wegen Diebstahls war nicht die einzige, die
       Polizistin R. gegen Austen stellte. Sie zeigte sie außerdem [3][wegen
       unerlaubten Filmens an] – nach Paragraf 102 des Strafgesetzbuchs, also
       wegen „Verletzung des vertraulich gesprochenen Wortes“. Obwohl dieser
       Vorwurf am Dienstag nicht Teil der Anschuldigungen ist, kommt er in der
       Verhandlung mehrmals zur Sprache – für die Richterin ist das ein Grund,
       gleich mit darüber zu entscheiden.
       
       [4][Ob das gesprochene Wort, das Austen filmte, denn überhaupt vertraulich
       gewesen se]i, weil doch sehr viele Menschen anwesend waren, möchte sie von
       der Polizistin R. wissen. R. versteht die Frage nicht.
       
       Selbst die Staatsanwältin plädiert auf Freispruch. Und so entscheidet auch
       die Richterin: Freispruch in beiden Fällen. Schon nach Aktenlage sei es ihr
       unwahrscheinlich erschienen, dass Austen das Handy gestohlen habe. Den
       Strafbefehl habe sie dennoch unterschrieben, weil abzusehen war, dass die
       Staatsanwaltschaft sonst Widerspruch eingelegt hätte und es ohnehin zum
       Prozess gekommen wäre.
       
       „Es ist nervig, dass man sich das als Bürger antun muss, obwohl man nichts
       gemacht hat“, sagt die Richterin. „Aber so funktioniert nun mal unser
       rechtsstaatliches System. Und ein besseres gibt es bislang nicht.“
       
       „Ich bin froh und erleichtert über den Freispruch“, sagt Austen. Leider
       ändere er aber nichts an der Gesamtsituation. „Die rassistischen Kontrollen
       auf St. Pauli werden ja weitergehen.“
       
       26 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Vorwurf-des-Racial-Profiling/!5952907
 (DIR) [2] /Gefluechtete-streiten-fuer-Bleiberecht/!5937997
 (DIR) [3] /Polizei-will-Fotos-von-Tag-X-Demo/!5939170
 (DIR) [4] https://www.bpb.de/themen/recht-justiz/persoenlichkeitsrechte/244840/das-recht-am-gesprochenen-wort/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Katharina Schipkowski
       
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