# taz.de -- Dokuroman über NSU-Prozess: Das Blickregime im Gerichtssaal
       
       > Hunderte Verhandlungstage und eine schweigende Angeklagte: Im Dokuroman
       > „Laufendes Verfahren“ setzt sich Kathrin Röggla mit dem NSU-Prozess
       > auseinander.
       
 (IMG) Bild: 428. Verhandlungstag beim NSU-Prozess in München
       
       „Wir wollen einfach sehen, was in diesem Land geschieht, und wo kann man es
       deutlicher sehen als in den Gerichtssälen dieses Landes, vor allem in
       diesem historischen Prozess, den man mal den Nachwendeprozess schlechthin
       nennen wird.“ Kathrin Röggla legt in ihrem als „Roman“ bezeichneten neuen
       Werk „Laufendes Verfahren“ Zeugnis ab.
       
       Das Dokumentarische hat mehr Wert als das Fiktionale, am Ende nennt sie in
       Gedenken an die zehn Ermordeten des NSU ihre Namen, [1][es ist eine
       deutliche Mahnung]. Zuvor schreibt sie aus der Perspektive von
       Beobachter:innen über den Mammut-Strafprozesses gegen die
       rechtsradikalen Terroristen. Eine monumentale Setzung.
       
       Der Plural „wir“ schildert Erlebnisse von „Omagegenrechts“, „Bloggerklaus“
       und „Grundsatzyildiz“ und anderen regelmäßig Anwesenden. Sie wohnen aus
       unterschiedlichen Motiven der Gerichtsverhandlung in München von der Empore
       aus bei. Aus diesen Individuen wird eine kritische Masse „Wir“. Von ihr
       werden divergierende Ansichten über den Prozessverlauf, juristische Details
       und handelnde Personen im Gerichtssaal diskutiert.
       
       ## Neun Morde, 43 Mordversuche
       
       Der NSU-Prozess erstreckt sich über mehr als 400 Verhandlungstage und
       dauert von 2013 bis 2018. Verhandelt werden neun Morde an Bürgern mit
       migrantischen Hintergründen und ein Mord an einer Polizistin, zwei
       Sprengstoffanschläge, 15 Raubüberfälle und 43 Mordversuche. Über 1.000
       Aktenordner werden dafür angelegt.
       
       Skandalbehaftet ist die Aufarbeitung von Anfang an. Auch aufgrund der
       jahrelangen polizeilichen Ermittlungspannen bis unmittelbar vor dem
       Auffliegen der faschistischen Mörderbande 2011 und dem Selbstmord zweier
       Hauptverdächtiger liegt ein Schleier über allem.
       
       Die mutmaßliche Verstrickung der Inlandsgeheimdienste, deren V-Leute mit
       dem Täterkreis bekannt waren, wobei der V-Mann Andreas T. sogar bei einem
       der Morde in Kassel anwesend war, führt zur Entstehung eines Dunkelfelds,
       das bis heute nicht richtig erhellt ist. [2][Obwohl höchste politische
       Kreise der Bundesrepublik in der Aufklärung involviert sind], auf
       politischer Ebene gibt es Untersuchungsausschüsse in mehreren
       Bundesländern, auf juristischer Ebene übernimmt die Bundesanwaltschaft in
       Karlsruhe die Ermittlungen.
       
       ## Geschwärzte Stellen
       
       Von diesen Größenordnungen handelt „Laufendes Verfahren“ jedoch nicht. Kann
       es auch gar nicht. Wichtige Akten sind geschreddert worden oder haben
       120-jährige Sperrvermerke bekommen. „Die geschwärzten Stellen werden die
       ungeschwärzten ad absurdum führen, sie werden sie verdrängen“, heißt es
       dazu. So ist das „Wir“ auf der Besuchertribüne eine wichtige Instanz.
       Röggla nutzt sie, um das, was nicht gesagt wird, ausführlich zu schildern.
       
       Das Schweigen der Hauptangeklagten zum Beispiel. Ein Schweigen, das auch
       nach der Urteilsverkündung weitergeht, wie sie schreibt. „Es wird aber kein
       Urteilsende geben, nicht hier.“
       
       Daher stützt sich Röggla in „Laufendes Verfahren“ auch auf die Mühen der
       Prozess-Ebene, tätigt scheinbar banale Beobachtungen. Verteidiger verkleben
       an einigen Tagen ihre Notebooks mit Sichtschutz. Ein Zeuge tritt auf, der
       ein Hakenkreuz im Nacken tätowiert hat, welches er dann mit einem Pflaster
       verdeckt, damit es die Richter und Sicherheitsbeamte im Saal nicht sehen.
       
       ## Schlipse ausrollen
       
       Schlipse werden aus Anwaltstaschen geholt und auseinandergerollt und
       Richter-Roben werden übergestreift. Das ist penibel, peinsam, oft auch
       unheimlich zu lesen: Wenn Nazis auf der Zuschauertribüne Adressen von
       berichtenden Journalist:innen ausposaunen, wird aus stillem Schrecken
       sehr anschauliche Bedrohung.
       
       In einem Radiointerview hat die österreichische Autorin den NSU-Prozess als
       Theaterstück deklariert. Hmm. Ein Gerichtsdrama hat sie definitiv nicht
       verfasst. Eher ist es eine Auseinandersetzung mit den Winkelzügen
       juristischer Formalien, mit dem Prozedere der Wiedererkennung von
       Verdächtigen, die wichtige Zeugen erkannt haben wollen; mit der
       Prozessordnung und der Redezeit von Verteidigern; mit den Blickregimen im
       Gerichtssaal.
       
       „Laufendes Verfahren“ arbeitet sich an den juristischen Regelwerken
       Hardcore ab: Dass Quellenschutz vor Opferschutz gehe, wird einmal
       konstatiert, und das liest sich wie eine Grabinschrift. Man muss sich bei
       der Lektüre anstrengen, gut so. „Sprache ist begrenzt, immer schon
       vermint“, heißt es ein andermal. Fast hätte ich geschrieben „zwischen den
       Zeilen“.
       
       22 Oct 2023
       
       ## LINKS
       
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