# taz.de -- Fußball-EM in Deutschland: Ein Spielfeld des Kulturkriegs
       
       > Die Organisatoren der Fußball-EM wollen an die WM-Erzählung vom
       > weltoffenen Deutschland 2006 anknüpfen. Vieles daran ist schräg.
       
 (IMG) Bild: Hält Ausgrenzen nicht für das Modell des 21. Jahrhunderts: Philipp Lahm (l.)
       
       „Es ist Zeit für eine Zeitenwende im deutschen Fußball. Und in der
       Gesellschaft“, schreibt Philipp Lahm, Geschäftsführer der DFB Euro GmbH, in
       einem [1][Gastbeitrag für den Kicker] mit Blick auf die EM in Deutschland.
       Das Turnier müsse als „Wendepunkt“ begriffen werden, „für Europa, für die
       Gesellschaft, für uns alle“.
       
       Das Turnier sei „ein Aufruf für Solidarität und Fürsorge sowie für ein
       Wiedererstarken des europäischen Gedankens. Europa und seine wichtigen
       Werte wie Demokratie und Freiheit, Vielfalt und Toleranz, Integration und
       Inklusion sollen dabei gestärkt und gefeiert werden. Denn ein Ausgrenzen
       ist nicht das Modell des 21. Jahrhunderts in Europa.“
       
       In ähnlicher Weise äußerte sich Lahm nun in seiner Grußbotschaft an die
       Teilnehmer der Gala der Deutschen Akademie für Fußballkultur in Nürnberg,
       wo auch Nürnbergs Zweite Bürgermeisterin Julia Lehner (CSU) das Mikrofon
       ergriff.
       
       Sie hoffe, dass man bei der EM endlich wieder Nationalstolz zeigen könnte,
       so wie im Sommer 2006. Lehner riet den Anwesenden: „Nicht immer auf das 20.
       Jahrhundert gucken.“
       
       Einen Schlussstrich unter die Vergangenheit und Aufbruch zu neuen Ufern
       hatte man sich auch von der WM 2006 erhofft. Tatsächlich war das Ausland
       damals begeistert von den „neuen Deutschen“. „Alles in allem sind sie nicht
       so schlecht“, resümierte die Times. Der Guardian attestierte dem
       Ausrichterland, eine „grundlegende Veränderung“ durchgemacht zu haben.
       
       ## Das Sommermärchen war nicht nur bunt und offen
       
       Nur die österreichische Kronenzeitung befürchtete, die deutsche
       Weltoffenheit würde nicht von Dauer sein: „Sie werden statt Freunden zu
       Gast wieder zu viel Ausländer im Land haben.“
       
       [2][Nur bunt und weltoffen war das Sommermärchen ohnehin nicht]. In der
       Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ gelangten der Erziehungswissenschaftler
       Wilhelm Heitmeyer und sein Team zu dem Ergebnis, dass es rund um die WM zu
       einer Zunahme „gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ gekommen sei.
       
       Im Osten gab es „No-go-Areas“, für den ausländischen Besucher war das
       freilich nicht spürbar. Denn die einzige ostdeutsche Austragungsstadt war
       Leipzig.
       
       Philipp Lahm meint es gut, und Julia Lehner ist keine Rechte. Mensch kann
       ihre Statements auch als Hilferufe lesen.
       
       ## 2006 saß keine AfD im Bundestag
       
       Beide wissen, dass die Voraussetzungen für ein Sommermärchen 2.0 nicht die
       besten sind. Das Land hat sich verändert, Europa ebenfalls. Im Sommer 2006
       gab es noch keine rechtsextreme Partei im Bundestag, die aktuell in der
       Wählergunst auf Platz zwei liegt. Europa wirkte geeinter und demokratischer
       als heute.
       
       Großbritannien war noch in der EU, in Polen und Ungarn herrschten noch
       Rechtsstaat und Gewaltenteilung, Italien wurde noch nicht von einer
       Postfaschistin regiert. Es ertranken noch nicht Tausende von Flüchtlingen
       an der Außengrenze Europas. Russland hatte noch nicht die Krim besetzt und
       die Ukraine überfallen.
       
       Dass das Europa von damals nicht mehr das Europa von heute ist, deutete
       sich erstmals bei der EM 2016 an, als russische Hooligans in Marseille
       englische Fans verprügelten. Die durchtrainierten Burschen genossen die
       Unterstützung von Teilen der russischen Politik und des russischen
       Fußballverbands.
       
       Für Igor Lebedew, damals stellvertretender Präsident des russischen
       Parlaments und Vorstandsmitglied des russischen Fußballverbands, hatten die
       Hooligans „die Ehre ihres Landes verteidigt und es den englischen Fans
       nicht gestattet, unser Land zu entweihen“. Lebedew wollte dem Westen
       vorführen, wie wehrlos und verweichlicht seine multikulturellen und
       liberalen Gesellschaften seien.
       
       ## Uefa beugte sich Orbán
       
       Dazu passte auch ein Statement von Wladimir Markin, Leiter der
       Presseabteilung des einflussreichen Ermittlungskomitees der Russischen
       Föderation, einer mit dem US-amerikanischen FBI vergleichbaren Behörde. Das
       Problem der französischen Polizisten sei, dass sie überrascht wären, wenn
       sie auf einen Mann träfen, der so aussieht, wie ein Mann aussehen sollte.
       Die Polizisten seien einfach zu sehr an schwule Mannsbilder gewöhnt – wegen
       der vielen Schwulenparaden in Frankreich.
       
       Ein Turnier später verhinderte die Uefa, dass beim Spiel Deutschland gegen
       Ungarn die Münchner Arena in den Farben des Regenbogens erstrahlte – ein
       [3][Kotau vor dem Partner und Autokraten Viktor Orbán], dessen Politik auf
       fünf Säulen steht: Nationalismus, christlicher Fundamentalismus, Rassismus,
       Korruption und Fußball.
       
       Seit 2016 ist die EM auch ein Spielfeld des Kulturkriegs zwischen
       Autokraten und den Befürwortern der liberalen Demokratie.
       
       Philipp Lahms Europa gibt es nicht. Was „europäische Werte“ sind, darüber
       existieren fundamental unterschiedliche Meinungen. Wenn Lahm das Turnier
       dazu nutzen will, demokratische und liberale Werte hochzuhalten, ist das
       gut. Nur muss ihm klar sein, dass dies nur als innenpolitische und
       innereuropäische Kampfansage Sinn macht.
       
       Den „[4][Partypatriotismus]“ von 2006 gibt es ebenfalls nicht mehr. Julia
       Lehner sollte die Beschwörung deutschen Nationalstolzes tunlichst
       unterlassen.
       
       1 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] /Die-Maer-vom-guten-Deutschland/!5246551
 (DIR) [3] /EM-Stadion-in-Regenbogenfarben/!5777582
 (DIR) [4] /Kommentar-Fussball-Patriotismus/!5502023
       
       ## AUTOREN
       
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