# taz.de -- EM und Patriotismus: National gehemmt
       
       > Niemand weiß mehr, was man mit diesem Schland eigentlich anfangen soll.
       > Für den Fall deutscher Erfolge stehen alle aber vorsichtig sprungbereit.
       
 (IMG) Bild: Unverkrampft und stilsicher für Deutschland? Fällt den meisten Deutschen schwer
       
       Als Zafer Şenocak in die Bundesrepublik kam, 1970, wunderte er sich über
       dieses Land. Er machte nur wenig nationale Symbole aus. Kaum Fahnen. Wenig
       Bilder von Repräsentanten des Staates in öffentlichen Gebäuden.
       Deutschtümelnde Mitschüler des späteren Schriftstellers waren Außenseiter.
       Das lief in der Türkei anders.
       
       Doch nun war er in einem „sympathischen Land (angekommen), das dem
       Einwanderer kaum mit eigener Identität entgegentrat“, schrieb er einmal
       über seine neue Heimat. Daran hat sich nicht viel geändert. Deutschland
       weiß nichts mit sich anzufangen. Es trägt Lasten, die aus guten Gründen
       auch auf kommende Generationen verteilt werden. Gut, [1][es gab diese
       patriotische (oder nationale?) Aufwallung im Jahr 2006], Fähnchenmeere
       überall.
       
       Doch diese ex post immer wieder als unbeschwerte Zeit gefeierte Episode
       trug doch deutliche Zeichen von Zwanghaftigkeit: Jetzt sind wir aber mal
       locker, heimatstolz und gastfreundlich! Es war eine Auszeit von der
       deutschen Bleischwere, eine nette Autosuggestion, die mit dem Ende der WM
       in sich zusammenfiel wie ein Soufflé, das zu früh aus dem Ofen geholt wird.
       Das Land kippte zurück in die Stimmung der redlichen Verzagtheit und des
       protestantischen Durchmurkelns.
       
       Die Sehnsucht nach kollektiver Aufwallung ist freilich immer da, der
       Wunsch, ein anderer zu sein – und bei jedem großen Sportevent versucht der,
       nun ja, Deutsche, Berührungspunkte an die Normalität anderer Länder zu
       finden: den gesunden Patriotismus eines Franzosen oder einer Schottin. Wir
       könnten hier noch Dutzende andere Nationen aufzählen, allein, die Diagnose
       bliebe die gleiche. Für den Homo teutonicus gilt: Genauso wie die
       Toskana-Fraktion nicht italienisch wird, so bleibt er national gehemmt,
       geradezu linkisch.
       
       Dass jetzt vor dieser EM im eigenen Land kaum Fahnen zu sehen sind, ist
       also nichts Besonderes, zumal [2][die politischen Kämpfe der vergangenen
       Jahre] zu einer weiteren Entfremdung von der Trikolore in Schwarz-Rot-Gold
       geführt haben. In der Linken zucken die alten antideutschen Reflexe wieder
       besonders stark, und die Rechte weiß nicht recht, womit sie ihr angeblich
       so starkes Schland-Gefühl begründen soll. Da ist viel revisionistisches,
       antimodernes Zeug dabei, und mit dem Hervorkramen deutscher Tugenden,
       Romantik oder Klassik beglückt man eher die eigene Zielgruppe.
       
       Selbst der einfache Fußballfan, ja, [3][auch die gesellschaftliche Mitte,
       weiß nicht mehr, was sie mit diesem Schland anfangen soll]. Wofür steht es?
       Warum soll ich mich heiß machen (lassen)? Turnt mich dieses Team wirklich
       an? Also ist man landauf, landab in defensiver, aber durchaus
       sprungbereiter Erwartung. Alles hängt von der Performance des DFB-Teams ab.
       Spielt es gut, wird man (krampfig) Blaupausen von der WM 2006 erstellen.
       Kickt es schlecht, ergeht man sich in Defätismus und übellauniger Meckerei.
       Vielleicht ist genau das Deutschlands nationale Identität – mit der man
       allerdings keinen Staat machen kann.
       
       14 Jun 2024
       
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 (DIR) Markus Völker
       
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