# taz.de -- 10 Jahre Maidan-Proteste: Ganz in der Gegenwart
       
       > Vor 10 Jahren begannen in der Ukraine die Maidan-Proteste. Ihr
       > Vermächtnis sind Menschen, die sich selbst als Subjekte der Geschichte
       > verstehen.
       
 (IMG) Bild: Da waren die Proteste schon drei Wochen alt. Menschen auf dem Maidan im Dezember 2013
       
       Die Gegenwart ist nicht fassbar weil sie nicht von Dauer ist. Jean-Paul
       Sartre verstand die Gegenwart als eine Grenze zwischen dem Bereich der
       Faktizität – dem, was bereits geschehen ist und deshalb einfach ist – und
       dem Bereich der Transzendenz, einer Öffnung, die über das hinausgeht, was
       bisher gewesen ist. Die Revolution beleuchtet diese Grenze. Sie ist ein
       Moment der Entscheidung.
       
       Im Jahr 2004 beging das Team des ukrainischen Präsidentschaftskandidaten
       [1][Wiktor Janukowitsch, ein mit dem Kreml verbündeter Oligarch],
       Wahlbetrug – und [2][Janukowitschs Gegner, Wiktor Juschtschenko, wurde
       während des Wahlkampfs mit Dioxin vergiftet]. Massenproteste auf dem
       zentralen Platz in Kyjiw, dem Maidan, erzwangen eine Wiederholung der Wahl.
       Diesmal gewann Juschtschenko deutlich. In Kyjiw herrschte eine ekstatische
       Stimmung. Es schien, als könne Janukowitsch nie wieder zurückkommen.
       
       Doch Juschtschenko erwies sich als Präsident als eine große Enttäuschung.
       Und Janukowitsch wählte aus den Angeboten der amerikanischen PR-Industrie
       eines für Gangstertypen mit Präsidentschaftsambitionen aus. Unter Anleitung
       seines Washingtoner PR-Beraters trat er 2010 erneut an und gewann die
       Präsidentschaftswahlen, diesmal rechtmäßig.
       
       Anschließend überreichte Janukowitsch seinem Washingtoner Berater Paul
       Manafort als Dankeschön ein Glas Kaviar im Wert von über 30.000 Dollar.
       
       ## In letzter Minute abgesagt
       
       Der Trostpreis, den Janukowitsch der ihm verhassten liberalen Intelligenz
       in Aussicht stellte, war die Aussicht, wenn auch weit entfernt, auf die
       europäische Integration. Vor allem für die junge Generation war „Europa“
       das Objekt ihrer Sehnsucht. Im November 2013 sollte die Ukraine dann ein
       lang erwartetes Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union
       unterzeichnen. [3][In letzter Minute, am 21. November 2013, weigerte sich
       Janukowitsch.]
       
       Besonders geschockt von dieser Entscheidung waren Studierende, die das
       Gefühl hatten, ihre Zukunft sei vorbei. Europa würde ihnen verschlossen
       bleiben. Am selben Abend noch schrieb ein 32-jähriger ukrainischer
       Journalist namens Mustafa Nayyem, der aus Kabul stammte, auf Russisch auf
       seiner Facebook-Seite: „Kommt schon, lasst uns ernst machen. Wer ist
       bereit, heute um Mitternacht auf den Maidan zu gehen? ‚Likes‘ zählen
       nicht.“
       
       In dieser Nacht kamen überwiegend Studierende auf dem Maidan zusammen und
       blieben dort. Sie hielten sich an den Händen und riefen: „Die Ukraine ist
       Europa!“
       
       Am 30. November 2013 schickte Janukowitsch um 4 Uhr morgens seine
       Bereitschaftspolizei auf den Maidan, um die Studierende zusammenzuschlagen.
       Die Gewalt gegen friedliche Demonstranten war ein Schock. Janukowitsch
       rechnete offenbar damit, dass der Schock die Eltern dazu bringen würde,
       ihre Kinder von der Straße zu holen. In diesem Moment geschah aber etwas
       Frappierendes: Anstatt ihre Kinder von der Straße zu holen, schlossen sich
       die Eltern ihnen an. Jetzt waren fast eine Million Menschen auf den Straßen
       von Kyjiw, und sie riefen: „Wir werden nicht zulassen, dass ihr unsere
       Kinder schlagt!“
       
       Eines dieser geschlagenen Kinder war der 16-jährige Roman Ratushnyy.
       
       „Deine Mutter muss sehr besorgt gewesen sein“, sagte ich zu ihm später in
       einem Gespräch. „Aber sie hat dich zurückgehen lassen?“
       
       „Meine Mutter hat in der Hrushevskogo-Straße Molotow-Cocktails gemacht“,
       antwortete er.
       
       ## Eine Polis
       
       Der Maidan wurde nicht nur zu einem Ort des Protests, sondern auch zu einer
       Polis. Musiker traten auf, Künstler malten, Ärzte behandelten die
       Verletzten. Es gab eine Bibliothek, eine offene Universität, ein
       gemeinsames Klavier. Die Menschen errichteten Zelte, machten Lagerfeuer und
       kochten Suppe in eisernen Kesseln. Freiwillige räumten Schnee und Eis. Eine
       LGBT-Organisation verwandelte ihre vertrauliche Hotline für LGBT-Personen
       in eine Notfall-Hotline für den Maidan.
       
       Grenzen, die normalerweise zwischen Menschen bestehen, lösten sich auf. Es
       wurde sehr einfach, mit Fremden zu sprechen. „Es gab sehr unterschiedliche
       Menschen“, erzählte mir ein Student namens Misha, „Ukrainer, Russen, Juden,
       Polen, Tataren, Armenier, Georgier“. Man hatte das Gefühl, dass nicht nur
       ethnische, sondern auch sozioökonomische Trennungen überwunden worden
       waren.
       
       Der Maidan war ein „Laboratorium des Gesellschaftsvertrags“, wie es ein
       Schriftsteller beschrieb, „eine Vereinigung von IT-Spezialisten aus
       Dnipropetrowsk und einem huzulischen Hirten, einem Mathematiker aus Odessa
       und einem Kyjiwer Geschäftsmann, einem Übersetzer aus Lemberg und einem
       tatarischen Bauern von der Krim“.
       
       Der Historiker Yaroslav Hrytsak beschrieb den Maidan als eine Art Arche
       Noah: Er nahm „zwei von jeder Art“ auf. Es gab Menschen mit allen
       politischen Sympathien, von der radikalen Linken bis zur radikalen Rechten.
       Der junge linke Filmemacher Oleksiy Radyński sagte, Europa blicke voller
       Erschrecken in einen Spiegel, wenn man auf dem Maidan auch Neonazi-Symbole
       neben EU-Fahnen sehe, schließlich säßen Vertreter der fremdenfeindlichen
       extremen Rechten auch in fast jedem europäischen Parlament.
       
       Am 16. Januar verabschiedete Janukowitschs Regierung „Diktaturgesetze“, mit
       denen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit
       aufgehoben wurde. Jeder, der sich auf dem Maidan aufhielt, wurde zu einem
       Kriminellen erklärt. Janukowitschs Bereitschaftspolizei setzte Tränengas,
       Gummigeschosse, Blendgranaten und bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt
       auch Wasserwerfer ein.
       
       Demonstranten verschwanden. Die Leiche eines Aktivisten wurde verstümmelt
       und erfroren in den Wäldern gefunden. Diejenigen, die zurückkehrten, waren
       oft entstellt, ihnen fehlte zum Beispiel ein Teil eines Ohrs.
       
       ## In Kyjiw schlief niemand mehr
       
       Hannah Arendt beschrieb den „Charakter des verblüffend Unerwarteten, der
       allen Anfängen innewohnt“. Als die Ukrainer am 21. November auf den Maidan
       gingen, erwartete niemand, dort zu sterben. Aber Ende Januar, nachdem die
       ersten Demonstranten von der Polizei erschossen worden waren, war eine
       existenzielle Veränderung spürbar. Die Qualität der Zeitlichkeit selbst
       veränderte sich. Die Menschen verloren das Gefühl für die Zeit, für Tag und
       Nacht.
       
       In Kyjiw schlief niemand mehr. Der Maidan lebte in einer Zeit, die Walter
       Benjamin die „Jetztzeit“ nannte. Eine kritische Masse von Menschen hatte
       eine Entscheidung getroffen: Sie waren bereit, dort zu sterben, wenn es
       sein musste.
       
       Dies war der Moment – so glaubt der Kunstkurator und Maidan-Aktivist Vasyl
       Cherepanyn –, in dem die ukrainische Gesellschaft, wie sie heute existiert,
       geboren wurde.
       
       Im Februar 2014 gipfelte die Spannung des Maidans in einem Massaker, das
       Scharfschützen anrichteten. Etwa hundert Demonstranten starben.
       Janukowitsch floh nach Russland. [4][Der Kreml annektierte illegal die
       Krim] und schickte „russische Touristen“ über die Grenze, um einen Krieg in
       der Ostukraine anzuzetteln, wo eine bunt zusammengewürfelte Truppe vom
       Kreml unterstützter Separatisten behauptete, russischsprachige Menschen vor
       den ukrainischen Nazis zu schützen, die durch den von den USA inszenierten
       faschistischen Putsch in der Hauptstadt an die Macht gekommen waren.
       
       Dieser Krieg ist noch nicht zu Ende.
       
       ## Subjekte, nicht Objekte der Geschichte
       
       Während des Winters 2013-2014 fragten russische Journalisten die Menschen
       auf dem Maidan immer wieder, wer sie organisieren würde, welche Hilfe sie
       von den Amerikanern erhielten. „Sie konnten einfach nicht begreifen“,
       erzählte eine junge Frau, „dass wir uns selbst organisiert haben.“ Die
       Propaganda des Kremls, die Überzeugung, dass der US-Geheimdienst oder eine
       andere weltbeherrschende Macht die Fäden zieht, verriet nicht nur
       böswillige Absichten, sondern auch die Unfähigkeit zu glauben, dass es so
       etwas wie selbständig denkende und handelnde Individuen geben könnte.
       
       Acht Jahre später, im Frühjahr 2022, konnten die russischen Soldaten, die
       damals Cherson besetzt hielten, nicht glauben, dass die Menschen, die zum
       Protestieren auf die Straße gingen, nicht von einem „Mastermind da draußen“
       gesteuert wurden. „Sie waren nicht in der Lage, die Möglichkeit in Betracht
       zu ziehen, dass Menschen, denen Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung
       am Herzen liegen, sich selbst organisieren“, erzählte eine Frau aus Cherson
       später Journalisten.
       
       Roman Ratushnyy gehörte zu der Generation, die auf dem Maidan erwachsen
       geworden ist. Das Vermächtnis des Maidan sind Menschen, die sich als
       Subjekte und nicht als Objekte der Geschichte sehen. Roman wurde Umwelt-
       und Anti-Korruptions-Aktivist. Als Russland im Februar 2022 eine groß
       angelegte Invasion startete, ging er zum Militär.
       
       Im Juni 2022 wurde Roman an der Front getötet.
       
       ## „Nach dem Sieg“
       
       Heute sprechen die Ukrainer nicht von der Zeit „nach dem Krieg“, sie sagen
       „nach dem Sieg“ –пiсля перемоги (pislya peremohy). „Peremoha“ – so schlug
       der polnische Theaterregisseur Krzysztof Czyżewski vor – sollte Teil eines
       neuen universellen Wortschatzes werden. Die Vorsilbe pere bezeichnet eine
       Kreuzung und moha bedeutet „ich kann“. Peremoha – „Sieg“ – drückt
       buchstäblich aus, dass man über das hinausgeht, wozu man in der Lage ist.
       
       Wenn die Kollegen der ukrainischen Schriftstellerin Kateryna Mischtschenko
       über den Krieg sprachen, sprachen sie über den russischen Imperialismus,
       den Stalinismus und die Kolonialisierung. „Für mich“, schrieb Kateryna
       Mischtschenko, „hat dieser Krieg einen ziemlich klaren Bezugspunkt – den
       Maidan. Vielleicht lohnt es sich, an diesen Ort zurückzukehren, um die
       Zukunft zu finden.“
       
       Unaufrichtig zu leben, bedeutete für Sartre, das Faktische in die Zukunft
       zu projizieren und damit die Möglichkeit – und die Verantwortung – zu
       leugnen, über das, was ist, hinauszugehen. Die Lehre des Maidan ist, dass
       wir über das hinausgehen können, was wir bis jetzt gewesen sind. Wir können
       es – auch wenn das Licht, das die Grenze, die die Gegenwart ist, erhellt,
       nur in seltenen Momenten aufleuchtet, flackert und dann wieder zu
       verschwinden scheint.
       
       18 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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