# taz.de -- Zukunft in Zeiten der Dunkelheit: Der Zug der Zeit
       
       > Lange haben wir dem Gang der Welt apathisch zugesehen. Aber Zukunft wird
       > in jedem Moment der Gegenwart gemacht. So müssen wir sie auch betrachten.
       
 (IMG) Bild: Wie lässt sich Zukunft im Zeitalter der Dunkelheit herstellen?
       
       Der Zug der kommenden Zeit hat sich in diesem Jahr noch einmal massiv
       verstärkt. Eine ganze Weile, im Grunde seit den langen 1990er Jahren,
       herrschte im Westen der Welt ja diese eingebildete Windstille, die
       wesentliche Veränderungen einfach ausblenden half. Während sich also die
       Zeit vorwärtsbewegte, wie sie es eben so tut, blieben viele Menschen
       stehen; und da stehen sie immer noch, und merken wohl gar nicht, wie es sie
       nach vorne schiebt, einer Zukunft entgegen, die sich mehr wie eine Drohung
       anfühlt, denn wie ein Versprechen.
       
       Was sich eröffnet, 2024 und darüber hinaus, ist eine Zeit der geplanten
       Katastrophen, der Zeitenbrüche mit Ansage, resultierend aus der Summe von
       Aktionen oder Unterlassungen der Vergangenheit: Die Zukunft ist damit nicht
       emphatisch oder mit einer positiven Ideologie oder Hoffnung unterlegt; sie
       ist eher das Sammelbecken dessen, was sich angekündigt hat, politisch,
       geopolitisch, wirtschaftlich, technologisch und klimatisch.
       
       Für die Linke, im eigentlichen Sinn, ist das ein Problem, denn sie braucht
       diese Zukunftsemphase, um die Energie für Gerechtigkeit zu mobilisieren;
       für die Konservativen ist eine negative Zukunftsvision eher kein Problem,
       sie haben die Vergangenheit als Wärmekachel; und für die Rechte und
       Extremrechte, die immer stärker werden, ist die plausible Regression eine
       weitere Chance, denn ihr Geschäftsmodell beruht auf Angst und Vorteilen.
       
       Wenn wir jetzt also auf der Schwelle von 2023 zu 2024 stehen, schauen wir
       von einem schlimmen Jahr hinüber zu einem weiteren schlimmen Jahr – und die
       Frage bleibt, wie sich Hoffnung, Widerstand und die Möglichkeiten, die in
       den gewaltigen Umbrüchen dieser Zeit stecken, nutzen lassen. Dazu ist es
       vielleicht notwendig, erst einmal den Schock zuzulassen, der 2023 war, und
       eine Art von Wachheit und Weichheit zu entwickeln, die nichts mit Schwäche
       oder Aufgeben zu tun haben.
       
       ## Es geht um das Machen, das Tun
       
       Im Gegenteil: In den Gesprächen etwa über Israel und Gaza, die
       [1][Babyn-Jar-Haftigkeit] dessen, was die Mörder der Hamas am 7. Oktober
       angerichtet haben, und dem folgenden Krieg gegen eine weitgehend hilflose
       Zivilbevölkerung in Gaza, der mehr und mehr zu einem
       generationendefinierenden Ereignis wird; in diesen Gesprächen habe ich
       gemerkt, was es bedeutet, [2][die verschiedenen Wahrheiten], Biografien,
       offenen Wunden und offenen Möglichkeiten nebeneinander stehenzulassen; ohne
       Relativismus, aber mit Respekt.
       
       So gelang es manchmal, Zugang zu haben zu einem Schmerz, der über die
       Person und den Moment hinausreichte; zugleich eröffnet sich hier, aus den
       Ruinen der Gegenwart, der Blick auf eine Zeit vor uns, in der ein [3][Weg
       zum Frieden] in diesem Land, Israel, nur schwer zu sehen ist. Was bedeutet
       es also, wenn sich die Fehler und Versäumnisse der vergangenen mindestens
       30 Jahre nach vorne wenden? Was bedeutet es, wenn die Zukunft so verstellt
       ist?
       
       Ganz anders – und ähnlich – verhält es sich mit der AfD, die 2023 einen
       Höhenflug begonnen hat, der Deutschland möglicherweise für längere Zeit
       verändert: Was bedeutet es, 2024 auf Wahlen zuzusteuern, nach denen
       Regieren womöglich nur noch mit Neofaschisten möglich ist? Was bedeutet es,
       wenn sich auf dem europäischen Kontinent rechtsextreme Regierungen auch mit
       Politikern wie denen der deutschen Ampel verbinden, um Fluchtfestungen
       gegen Menschen zu bauen? Wie lässt sich unter diesen Bedingungen
       Gerechtigkeit denken?
       
       Und weiter gefasst: Wie ist hier der Generationenausblick? Wie lässt sich
       eine Zeit denken, die von Rechten und Rechtsextremen dominiert wird? Wie
       lassen sich die nächsten 10, 20, 30 Jahre abbilden? Wie verbindet sich
       regressives Abgrenzungsdenken mit den notwendigerweise kommenden
       Veränderungen, durch die Explosion von KI, durch disruptive Technologie?
       Wie verhält sich ein Kapitalismus, der seinen eigenen Faschismus erzeugt,
       wenn die Aporien allzu deutlich werden? Anders gesagt: Wie lange kann
       Ungerechtigkeit wachsen?
       
       Noch einmal unterschiedlich weitet sich der Zeithorizont, wenn es um die
       Klimakatastrophe geht – der Blick senkt sich wahlweise zum Jahr 2030 oder
       2035 hin, bis dahin müssen Energie, Bauen, Essen grundsätzlich anders
       geregelt sein, um das Schlimmste zu verhindern; selten geht der Blick
       weiter, bis 2050 etwa oder 2070, und die Frage, wie sich unter den
       Bedingungen von möglicherweise massenhaftem Sterben so etwas wie
       Gerechtigkeit denken oder umsetzen lässt. 2023 war hier ein weiteres
       sogenanntes Rekordjahr, was vor allem die Janusköpfigkeit dieses Wortes,
       Rekord, bezeichnet.
       
       Wie lässt sich also diese dunkle Zukunft denken? Gar nicht, wäre eine
       mögliche Antwort. Aber das wäre ein Aufgeben in die eigene Regression, und
       ich glaube, dass Menschen eingehen wie Pflanzen, wie Gesellschaften, wenn
       sie sich von der Luft, der Sonne, der Zukunft abwenden. Wie lässt sich
       also, das wäre eine alternative Frage, Zukunft im Zeitalter der Dunkelheit
       herstellen? Denn darum geht es, glaube ich, mehr und mehr: um das
       Herstellen, um das Machen und Tun.
       
       Das würde bedeuten, dass Zukunft keine Vorstellung ist, nichts Abstraktes –
       sondern im Gegenteil etwas sehr Konkretes, das sich in der Praxis ereignet,
       und zwar in so gut wie jedem möglichen Moment der Gegenwart. Es ist diese
       Praxis, die eine Arbeit gegen die Angst eröffnet und dem Schicksal einen
       Sinn für Solidarität entgegenstellt. Es ist diese Praxis, die verloren
       gegangen ist im Mahlstrom von Phlegma, Apathie und Passivität. Es ist diese
       Praxis, die wir wieder erlernen müssen.
       
       Die Verdrängung der Zukunft in der Vergangenheit war programmatisch; die
       Erfindung der Zukunft in der Gegenwart ist genauso programmatisch. Es ist
       der Unterschied zwischen reaktionär und progressiv, zwischen rechts und
       links, zwischen autoritär und antiautoritär.
       
       30 Dec 2023
       
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