# taz.de -- Ken Loachs letzter Film: Noch sind sie sich fremd
       
       > Nordengland: Syrische Geflüchtete treffen auf abgehängtes Proletariat.
       > Ken Loachs letzter Film „The Old Oak“ steht im Zeichen des Brückenbauens.
       
 (IMG) Bild: Das k hängt schief: TJ Ballantyne (Dave Turner) von „The Old Oak“
       
       Kaum ist die Syrerin Yara (Ebla Mari) in der britischen Grafschaft Durham
       aus dem Bus gestiegen, greift ein Brite im schwarz-weiß-gestreiften
       Fußballtrikot ungefragt in ihre Tasche, fuchtelt mit ihrer Kamera herum und
       lässt sie fallen.
       
       Die Kamera geht kaputt. Er weigert sich, die Reparatur zu zahlen. Mit
       dieser Szene beginnt „The Old Oak“, der neue – und mutmaßlich letzte – Film
       des Regisseurs Ken Loach. Er spielt im Jahr 2016. [1][Die hoffnungslosen
       Bewohner einer ehemaligen Bergarbeiterstadt in Nordengland] treffen darin
       auf syrische Geflüchtete.
       
       Die Stadt ist trist, es wachsen nirgends Blumen, die Sonne scheint nicht,
       Haustüren quietschen und Wände sind dreckig. Es wirkt, als hätte jemand den
       Kontrast heruntergesetzt – matt, braun, beige, dunkel. Das „k“ des Old Oak,
       des einzigen noch verbliebenen Pubs der Stadt, hängt schief.
       
       ## Das „k“ knickt ab
       
       Dessen Betreiber TJ Ballantyne (Dave Turner) versucht zu Beginn des Films
       mit einem Holzstab, den Buchstaben wieder ins Lot zu bringen – es gelingt
       ihm nur kurz. Dann knickt das „k“ wieder ab. Außer dem „Old Oak“ existiert
       kein Versammlungsort mehr. TJ Ballanyne, ein älterer, stiller Brite, macht
       trotzdem weiter und verbittert nicht darüber.
       
       Der Pubbesitzer ist auf eine produktive Weise ambivalent. Er hilft Yara,
       repariert ihre Kamera und hält zeitgleich aus, dass die frustrierte
       Stammkundschaft seiner Pinte die neuen Kleinstadtbewohner aus Syrien als
       „Parasiten“ bezeichnt und den Klassikersatz „I’m not a racist, but…“
       raushaut. Durch die statische Kamera, die an den Stammgästen kleben bleibt,
       werden Zuschauende zu Beobachtern, die das Geschehen – anders als im
       echten Leben – ohne Fremdscham wirken lassen können.
       
       Weil das eigene Alltagsleben trostlos und eingegrenzt scheint, lästern die
       Kleinstadtbriten beim schalen Bier über die Neuankünfte in der Stadt,
       halten in ihrer Engstirnigkeit zusammen. Wenn Menschen, die wenig haben,
       sich bedroht fühlen, dass ihnen das Wenige auch noch weggenommen wird,
       kriegen sie Angst. Loach nimmt sowohl die Angst von, als auch die Gefahr
       durch die sozial und ökonomisch Abgehängten mit seiner Erzählweise ernst.
       
       ## Gesichter statt Statistiken
       
       Deshalb passt ein Film wie „The Old Oak“ in Zeiten der Polarisierung.
       [2][Loach erzählt im Kleinen], macht aus Nummern und Statistiken Gesichter
       und bleibt beim Erzählen unaufdringlich. Er rückt nur die Worte und
       Gesichter in den Fokus – auch visuell. Denn die Misere steht den Personen
       ins Gesicht geschrieben. Ken Loach hält drauf, lässt die von Sorgenfalten
       gezeichneten Gesichter der Bewohner der hoffnungsfreien Kleinstadt wirken –
       ebenso wie das Gesicht von Ebla Mari, die als Yara eine Bandbreite
       komplexer Emotionen zeigt.
       
       In „The Old Oak“ kollidiert der Rassismus mit den sozialen Fragen. Als Yara
       eine britische Teenagerin, die beim Sport krank geworden ist, nach Hause
       bringt, wird sie von deren Mutter mit den Worten „Geh dorthin, wo du
       hergekommen bist“ weggescheucht. Später scheint die Mutter ihre
       rassistischen Vorurteile erkannt zu haben, bedankt sich bei Yara. Mit dem
       Bedanken der Mutter löst Loach die Situation subtil auf, stellt die
       langsame Annäherung und das Verständnis der dargestellten Menschen
       füreinander dar.
       
       Diese Annäherungen und Erkenntnismomente tauchen im Film mehrmals auf und
       zeigen: Leid und Schmerz lassen sich nicht vergleichen. Die hilfsbereite
       Laura (Claire Rodgerson) erkennt ihre blinden Flecken, als sie einem
       syrischen Mädchen ein gespendetes Fahrrad überreicht und ein britischer
       Junge aus sozial schwachen Verhältnissen sagt: „Ich wünschte, ich würde ein
       Fahrrad bekommen.“
       
       ## Früher war mehr Hoffnung
       
       Als TJ und Yara im Nebenraum des Pubs gemeinsam Schwarz-Weiß-Fotos von
       Bergarbeitern betrachten, sprechen sie ohne Filter, gehen von Bild zu Bild,
       Yara teilt Erinnerungen aus Syrien, TJ erzählt von Protesten der
       Bergarbeiter und den Jahren, in denen Durham hoffnungsvoller war. An
       einigen Stellen begleitet sanfte Klaviermusik die Szenen, die lange genug
       stehenbleiben, um zu wirken.
       
       Loach verhindert durch die Beiläufigkeit der Konversation, dass die
       Charaktere wie Opfer wirken. Er zeichnet Yara als starke und ambitionierte
       Frau, mit dem Traum, Fotografin zu werden, während er nicht auslässt, dass
       auf dem Weg zu diesem Traum große Hindernisse liegen: Krieg, Ungewissheit
       über den Verbleib ihres Vaters und Alltagsrassismus. Yara und TJ werden im
       Film zu metaphorischen Brückenbauern, die die Menschen, die sich noch fremd
       sind, zusammenbringen.
       
       „When you eat together, you stick together“, steht unter einem Foto, das
       Bergarbeiter beim großen Streik 1985 zeigt. Getreu diesem Motto fangen
       Yara, TJ und andere Kleinstadtbewohner an, kostenlose Essen zu organisieren
       – für die verarmten Kinder der Stadt, die sich abgehängt fühlen, und die
       Geflüchteten aus Syrien. Loach möchte seinem Publikum so zu verstehen
       geben: Wenn Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungshorizonten einander
       helfen und unterstützen, können daraus Verbindung und Vertrauen entstehen.
       
       Der Film reißt viele Themen an: Angst, Trauer, Fremdenhass, Suizidgedanken,
       Aufgeben und Weitermachen. Am Ende bleiben Gedankenanstöße, in die Richtung
       von mehr Nächstenliebe und Verständnis. Ken Loach und sein Drehbuchautor
       Paul Laverty erzählen die Geschichten nicht aus.
       
       Lösen die Probleme nicht. Beharren nicht auf einem Happy End. Das scheint
       nicht das Ziel – und das ist in Ordnung so. Denn die Figuren im Film
       wachsen (zusammen), nähern sich an. Nicht linear, nicht ohne Rückschläge,
       sondern fragmentiert. Es ist wie das, was Protagonistin Yara mit ihren
       Fotos macht: ein Schnappschuss, mit Details, roh, zeitgemäß.
       
       23 Nov 2023
       
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