# taz.de -- Ken Loachs Film „Sorry We Missed You“: Was vom Leben übrig bleibt
       
       > Ken Loach nimmt sich mit seinem jüngsten Sozialdrama die
       > Arbeitsbedingungen von Amazon-Lieferanten vor. Das gerät mitunter zum
       > Horrorfilm.
       
 (IMG) Bild: Sieht zumindest aus wie Freiheit: Ricky (Kris Hitchen) und seine Tochter Liza Jane (Katie Proctor)
       
       „Wir zahlen keine Löhne, sondern ein Honorar. Sie sind nicht angestellt,
       sondern arbeiten selbstständig. Und natürlich können Sie jederzeit selbst
       entscheiden, ob sie zur Arbeit kommen oder nicht.“
       
       Das sagt der Filialleiter (Ross Brewster) des Paketzustell-Unternehmens in
       Ken Loachs Film „Sorry We Missed You“ zu Ricky (Kris Hitchen), der es gar
       nicht abwarten kann, seinen neuen Job als Zusteller bei „PDF: Parcels
       delivered fast“ – Pakete schnell geliefert – anzutreten. Immerhin habe er
       in den letzten Jahren „alles Mögliche“ gearbeitet, auf Baustellen oder als
       Klempner. Das Wichtigste sei es, frei zu sein, sagt er – und liefert die
       Steilvorlage für die nächsten 100 Minuten.
       
       Freiheit existiert hier nämlich nur in der Verzerrung der Wirklichkeit
       derer, die sie anderen schmackhaft machen wollen. Ricky, Vater zweier
       Kinder, ahnt nicht, dass die Worte seines zukünftigen Chefs nicht wirklich
       das Job-Profil beschreiben, sondern eine Illusion, an die er selbst nicht
       glaubt, wie Brewster mit virtuos verbitterter Miene andeutet.
       
       Die Zuschauerin hingegen ahnt es bereits – und blickt voller Sorge in
       Rickys hoffnungsvolles Gesicht. Nicht nur, weil sie als aufmerksame
       Bewohnerin der neoliberalen Gegenwart die Worthülsen kennt, mit denen
       [1][die Härten prekärer Arbeit] beschönigt werden, sondern auch weil der
       britische Regisseur nicht für Märchen bekannt ist, sondern für das, was die
       Filmkritik Sozialdrama nennt.
       
       ## Am Abgrund eines ausbeuterischen Systems
       
       Ein Genre, das Ambivalenzen gerne vermeidet und am liebsten ohne übliche
       Kino-Tricks die „realen“ Härten von Schicksalen zeigt. So tritt Ricky
       natürlich keinen besseren Job an, sondern ist am Abgrund eines
       ausbeuterischen Systems angekommen. Sein neuer Arbeitgeber stellt nicht mal
       das Arbeitsmaterial, also den Lieferwagen. Ricky kann ihn sich nur leisten,
       weil er seine Frau Abbie (Debbie Honeywood) bittet, ihr Auto zu verkaufen,
       auf das sie als selbstständige Altenpflegerin eigentlich angewiesen ist.
       
       Womit wir beim zentralen Thema des Plots wären: den Auswirkungen flexibler
       Arbeit auf das Leben, oder besser, dem Rest von dem, was übrig bleibt. Die
       Freiheit, auf die Ricky hofft, heißt nichts anderes, als sich freiwillig
       den Lieferplänen zu unterwerfen, die ihn fast 14 Stunden am Tag schuften
       lassen.
       
       Dass Loach die psychologischen und sozialen Folgen dieses Schuftens dann
       sadistisch ausagiert, ist typisch für den Realisten, der in seinen Filmen
       stets den Abgehängten und Prekären eine Stimme verleiht. Als eine Art
       Anwalt der kleinen Leute hat er damit immer auch eine recht
       altmodisch-marxistische Perspektive, die Menschen vorwiegend als Opfer
       eines Systems sieht – und nicht auch als dessen Komplizen. Schließlich
       zahlen wir alle täglich ein in das Konto eines Systems, das uns das Leben
       so bequem wie möglich macht, aber die damit verbundenen „Kosten“ gerne
       versteckt.
       
       ## Die schlimmsten Prügel bekommt die Zuschauerin
       
       Es ist jenes Beharren auf Rickys Unfähigkeit, Agent der eigenen Biografie
       zu werden, das bisweilen unerträglich wird: Ständig müssen wir dem
       überforderten Ricky dabei zusehen, wie sein Leben aus den Fugen gerät, wie
       er sich immer mehr von seiner Tochter und seinem pubertierenden Sohn
       entfremdet, wie er ständig vom Chef angeschnauzt oder von Paketdieben übel
       verprügelt wird.
       
       Die schlimmeren Prügel erhält aber die Zuschauerin. So ist „Sorry We Missed
       You“ manchmal auch ein Horrorfilm. Statt Monster terrorisiert uns hier aber
       „nur“ die brutale Gewöhnlichkeit einer Welt, in der Paketzusteller*innen
       schon mal in Plastikflaschen pinkeln müssen, um ihre „Performance“ zu
       wahren.
       
       Loachs Inszenierung von Ricky als eine Art Märtyrer der neoliberalen
       Arbeiterklasse hätte ein bisschen weniger Pathos, ein bisschen mehr Humor
       vertragen können. Dennoch ist dem 83-jährigen Regisseur eine sensible
       Darstellung der psychischen Folgen der [2][„Gig Economy“] gelungen, die
       Machtzusammenhänge aufzeigt, die sonst gerne verborgen oder ignoriert
       werden: Wer war in den letzten Monaten nicht mal wieder genervt davon, dass
       das Paket nicht rechtzeitig kommt?
       
       30 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Philipp Rhensius
       
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