# taz.de -- Positiver Journalismus: Denk ich an Deutschland
       
       > Pisa, AfD-Höhenflug, mal wieder Leitkultur bei der CDU – die
       > Nachrichtenlage deprimiert gerade. Aber die Dinge schönzuschreiben ist
       > auch keine Lösung.
       
 (IMG) Bild: Nichts wie weg!
       
       Positiver Journalismus ist ja en vogue. Die Welt so schwarzmalen, wie sie
       ist, geht nicht mehr, da wird wohl abgeschaltet – Abo kündigen und so. Dann
       lieber Netflix. Serien reinziehen, in denen alles schwarz sein darf, ist
       schließlich Phantasie. Zugegeben, manchmal stehe ich auf dieses
       Positiver-Journalismus-Ding, es fühlt sich an wie Entenfütterungen in der
       Kindheit: Man wirft trocken Brot und jemand schnattert zufrieden.
       
       Heute aber würde ich lieber dark journalism betreiben. Wie viel dark
       braucht es, bis die Mehrheit der Bevölkerung so etwas wie einen Impuls
       empfindet, sich in die Realität, die sie umgibt, einzumischen? Realität
       wird derzeit so passiv konsumiert wie Netflix. Newsticker sind die Erdnüsse
       des trägen Geistes.
       
       Ich bin keine Berufsoptimistin, als Optimist ist man ungeheuerlich schnell
       von sich selbst gelangweilt: das Ich als TED-Video. Der Missbrauch der
       menschlichen Phantasie für rosarote Meerschweinchen. Etwas wie
       Hieronymus-Bosch-Bilder sollte zu jedem Alltag gehören, stattdessen
       polieren wir herum; der nächste Tip zur Selbsthilfe wartet sicher. Wie
       lässt sich über Verzweiflung schreiben, so, dass andere ihre eigene
       Verzweiflung auch fühlen? Oder den Hauch eines Schreckens, ein echter
       Schrecken, den man nicht abfotografieren kann für Instagram. Wer versteht
       schon noch Heinrich Heines Pathos und sein „Denk ich an Deutschland in der
       Nacht/ Dann bin um den Schlaf gebracht.“ Aber setzt sich noch irgendwer in
       Bewegung, als gäbe es noch etwas zu retten, oder war´s das? Rollt der Zug?
       
       Ich hab keinen Bock mehr auf positiven, relativierenden Journalismus, weil
       diese Schleimerei beim Leser ja doch keinen einzigen neuen Abonnenten
       bringt. Und während man versucht, die Dinge schönzuschreiben, zeigen die
       Umfragen täglich, dass die Abhärtung Programm geworden ist. Der
       Verfassungsschutz beschreibt nun auch die sächsische AfD als „gesichert
       rechtsextrem“, aber die Mehrheit nimmt das achselzuckend hin, so wie
       achselzuckend hingenommen wurde, dass die AfD in Hessen fast 20 Prozent
       erreichte.
       
       Ein Parteiverbot wird zwar diskutiert, aber wäre ja blöd, wenn das vor
       Gericht scheitert, oder? Das gäbe der Partei neuen Auftrieb, heißt es,
       dabei wäre sie genau dort, wo sie sich jetzt schon befindet: auf dem Weg
       zur Macht.
       
       Die Christdemokraten haben eine großartige Idee, wie sie den Krisen im Land
       begegnen wollen: [1][Friedrich Merz hat die Leitkultur wiederentdeckt]. Es
       ist durchaus bemitleidenswert, wenn einer jahrzehntelang immer dieselbe
       Idee aus der Schublade holt und sich damit vor die Leute stellt – man
       kennt´s ja schon. Aber in Deutschland reicht das derzeit, um in einer der
       einst großen Volksparteien der mächtigste Mann zu werden. Multikulti
       wollten sie abschaffen, aber wo genau herrscht Multikulti, bei der CDU, im
       Parlament, beim Bäcker?
       
       ## Weselskys Eierstöcke
       
       Mag sein, dass es der Vorweihnachtsfrust ist, ich kann mir das leider nicht
       mit Geschenken abkaufen – aber ich verstehe nicht mehr, warum nur noch
       [2][dieser Weselsky] von der Lokführergewerkschaft die nötigen Eierstöcke
       hat, um Verteilungsfragen auszufechten. Der Arbeitgeber seiner Lokführer,
       die Deutsche Bahn, hat trotzdem Vorstände, die sich Boni auszahlen lassen,
       obwohl gefühlt jede zweite Bahnfahrt ein Nerventest ist. Vorstände schaffen
       jetzt – laut NDR-Rechercheteam – auch noch ab, dass die Zufriedenheit der
       Kunden bei der Vergütung und Auszahlung von Boni eine Rolle spielt. Das ist
       schon plausibel.
       
       Ich nenne hier ja nur ein paar der Meldungen, die diese Woche wie
       Schlaglöcher für mich waren. So auch die Pisa-Studie, weiß inzwischen
       jeder, man nimmt es zur Kenntnis, jammert müde, das war's. Wir benehmen uns
       wie ein trockengelegter Aal, als ginge es nicht um die Zukunft unserer
       Kinder, als zeigte sich nicht gerade jetzt, wie Unbildung jeder Demokratie
       das Genick bricht.
       
       Aber vielleicht geht es ja genau darum – dann wieder hasse ich genau solche
       Verschwörungssätze und frage mich, weshalb es nicht mehr möglich zu sein
       scheint, Missstände zu benennen, und zwar so, dass Hebel in Bewegung
       gesetzt werden. Was genau muss passieren, damit Bildung wichtig genommen
       wird, wie viele Studien braucht es noch? Und wenn jetzt eine Generation mit
       solchen Lücken aufwächst, wo oder wie soll es dann besser werden und wann?
       
       ## Straßenkrater bei Sibiu
       
       Natürlich hat man auch gute Tage, aber heute ist keiner: So ein Schlagloch
       kommt selten allein. Meistens, wenn ich auf Straßen mit Schlaglöchern fuhr,
       kam ein Schlagloch aufs andere, so eine grundsätzliche Misswirtschaft auf
       Asphalt aneinandergereiht, bis die Straße nur noch die Behauptung von
       Straße war, so eine ferne Erinnerung an das, was sein sollte. Die
       schlaglöchrigste Straße habe ich in Rumänien befahren. Da wollte ich aus
       Sibiu/ Hermannstadt mit dem Auto auf einen Berg fahren, und meine
       Nebensitzerin hing mit der Nase an der Windschutzscheibe, um mich als
       Fahrerin über die Schlaglöcher hinweg zu lotsen, damit wir nicht alle zwei
       Meter in einem der Straßenkrater festsitzen, zumal das Auto voll war mit
       vier Menschen und zwei Schafen. Nun gut, die Schafe habe ich erfunden, aber
       sie hätten dabei sein können.
       
       Sind wir denn alle nur noch Wiederkäuer, frage ich mich heute, weil zum
       wiederholten Mal in meinem Leben die deutsche Lösung für Probleme
       Leitkultur heißen soll? Die Weltlage mal ausgeblendet, was schon schwierig
       genug ist, lesen wir [3][nun von einer Finanzbeamtin] von Chrissi Lindners
       Ministerium, die in einem Edelhotel den Reichsten Tipps gibt, wie sie
       Steuern vermeiden können. Nein, das ist kein Hieronymus-Bosch-Traum, das
       sind die anzugtragenden Ungeheuer unserer Zeit, denen am Ende alles völlig
       egal ist, außer sie selbst und ihresgleichen.
       
       Ich habe es für heute satt, das alles in präzise Beobachten und
       vermeintliche Sinnzusammenhänge zu packen. Die Frage, die bleibt, heißt:
       Wann reicht es, oder fährt der Zug jetzt weiter so?
       
       14 Dec 2023
       
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