# taz.de -- Verlust im Schnee: Das Bärchenportemonnaie
       
       > Wenn ich Schnee sehe denke ich daran, wie ich mal mein Portemonnaie im
       > Wald verloren haben. Denn das Portemonnaie und sein Schicksal waren
       > besonders.
       
 (IMG) Bild: Kein Ort, um leicht ein Portemonnaie wiederzufinden: der Harz
       
       Immer. Immer, wenn ich Schnee sehe, wenn die letzten Reste von Weiß auf den
       Straßen und Büschen kleben, dann denke ich an das Bärchen. An den Wald,
       der mein Bärchenportemonnaie verschluckte. An den Frust, die Resignation
       und Freude.
       
       Es war vor ein paar Jahren: Ein alter Schulfreund und ich kommen in einem
       kalten Winter zu einem Freundschaftstreffen in Göttingen zusammen. Von dort
       fahren wir in den [1][Harz] zum Wandern. Als wir an einem Bahnhof
       aussteigen und in den Wald laufen, sind die Bäume dort kahl, die Äste
       abgesägt, weite Flächen sind abgeholzt. Darauf liegt [2][Schnee], weiße
       Reste auf Braun.
       
       Wir haben kaum etwas mit. Ich habe ein ledernes Bärchenportemonnaie in der
       Jackentasche, das wie der Kopf eines Teddybären geformt ist. Die Nähte
       zeigen ein freundliches Bärchengesicht. Das Portemonnaie ist ein Geschenk.
       Es ist groß genug, dass mein [3][Personalausweis], meine [4][Bankkarte] und
       [5][Geld] knapp darin Platz haben. Klein genug, dass es genau in meine
       Jackentasche passt.
       
       Als wir schließlich tieferen Wald erreichen, ist es kalt und glatt. Die
       Gegend ist seltsam unwirtlich. Wir spüren kein Ankommen im Wandern. Nach
       einer Weile kehren wir um.
       
       Erst zurück am Bahnhof fällt mir auf, dass meine Jackentasche leer ist. Das
       Portemonnaie ist nicht mehr da. Es muss mir beim Gehen herausgefallen
       sein.
       
       Wir laufen einige hundert Meter zurück zum Wald. Doch es ist schnell klar,
       dass es aussichtslos ist zu suchen. Der Boden ist voll Laub, Schlamm und
       Schnee. Wir müssten den ganzen Weg wieder zurückgehen. Ich könnte es
       überall verloren haben. Der nächste Zug kommt bald. Der darauffolgende viel
       später. Wir fahren ab.
       
       ## Gefühl von Haltlosigkeit
       
       Ich bin traurig und ärgere mich über mich selbst.
       
       Mit einem merkwürdigen Gefühl von Haltlosigkeit, ohne die Anker von
       Personalausweis und Bankkarte in der Tasche, fahre ich zurück nach Hamburg.
       Ich bin auch traurig wegen des Bärchenportemonnaies.
       
       In Hamburg erfahre ich, dass man den Verlust des Personalausweises bei der
       Polizei melden soll. Auf der Wache schildere ich dem Polizeibeamten, dass
       ich mein Portemonnaie im Wald verloren habe. „Wie sah es denn aus“, fragt
       der Polizist.
       
       „Es war ein Bärchenportemonnaie“, antworte ich.
       
       Er schaut hinter dem Tresen auf: „So, so, ein Bärchenportemonnaie“. Er
       lächelt. Dann tippt er Bärchenportemonnaie in sein Formular, als würde es
       ihm Freude machen, das Wort aufzuschreiben.
       
       ## Nachricht von der Polizei
       
       Ich habe wenig Hoffnung, dass mein Portemonnaie im Wald gefunden wird. Doch
       ein paar Wochen später geschieht etwas Unerwartetes.
       
       Ich erhalte Nachricht von der Polizei: Mein Portemonnaie wurde gefunden.
       
       Ich soll wieder zur Wache kommen. Dort muss ich Aussehen und Inhalt
       beschreiben, dann wird mir mein Bärchenportemonnaie ausgehändigt.
       
       Das Leder ist von der Witterung dunkelbraun angelaufen und vertrocknet. Es
       ist deutlich, dass das Bärchenportemonnaie lange im Wald lag. Doch alles
       ist noch drin. Der Personalausweis, die Bankkarte. Angelaufene Geldscheine,
       die sich wellen. Doch sie sind noch benutzbar. Die Polizei kann mir die
       Adresse des Herren nennen, der das Portemonnaie gefunden hat. Vielleicht
       hat er angegeben, dass die Polizei sie weitergeben darf.
       
       Ich schreibe dem Finder eine Karte und lege einen der getrockneten
       Geldscheine, die die Witterung überlebten, in den Umschlag. Ich bedanke
       mich dafür, dass er alles im Portemonnaie gelassen und es weitergegeben
       hat. Dass mir das viel bedeutet. Das Portemonnaie und sein Handeln. Ich
       habe nie eine Antwort von ihm erhalten.
       
       Aber bis heute, wenn Schnee liegt, denke ich an den Wald, das Bärchen. Dass
       etwas im Schnee verloren geht. Und dass es nach einer Weile aufgehoben
       wird.
       
       Merkwürdigerweise habe ich das Portemonnaie seitdem nie wieder benutzt. Das
       brüchige Leder, der verlaufene Farbton hatten irgendwie etwas
       Abgeschlossenes, als wäre damit auch ein bestimmter Zeitabschnitt zu Ende.
       
       Aber ich habe es bis heute behalten. Und wenn ich es anschaue, stelle ich
       mir den Spaziergänger vor, wie er mitten im Wald im Schnee dieses
       Bärchengesicht findet.
       
       26 Dec 2023
       
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