# taz.de -- Stadtgespräch aus Istanbul: Politische Interessen mit Vorfahrt
       
       > Am Bosporus haben offenbar politische Gründe nach einem tödlichen Unfall
       > die Fahrerflucht des somalischen Präsidentensohns ermöglicht.
       
 (IMG) Bild: In Istanbul sorgt ein Verkehrsunfall mit verheerenden Folgen für Empörung
       
       ISTANBUl taz | „Es ist ein Skandal. Wir werden hier für jede Kleinigkeit
       belangt, und der Mörder darf einfach abhauen. Das Gesetz muss doch für alle
       gleich sein.“ Mustafa ist empört. Als Friseur spricht er mit vielen
       Menschen und alle seien der Meinung: „So geht es nicht.“
       
       Für die Empörung in Istanbul sorgt derzeit ein Verkehrsunfall mit fatalen
       Folgen. Ende November wurde auf der Stadtautobahn ein Motorradkurier von
       einem schweren Mercedes erfasst und quasi von der Straße gefegt. Der
       Kurier, Junus Emre Göçer, ein 38-jähriger Vater zweier Kleinkinder, starb
       wenig später im Krankenhaus.
       
       Was diesen tragischen Unfall jedoch zum Politikum macht, ist der
       Unfallverursacher: Mohamed Hassan Scheich Mohamud, Sohn von Somalias
       Präsidenten Hassan Scheich Mohamud. Der Junior war mit dem Diplomatenwagen
       der somalischen Botschaft unterwegs, was der Verkehrspolizei offenbar
       gehörigen Respekt abnötigte.
       
       Der Präsidentensohn wurde auf der Wache kurz befragt und dann als angeblich
       schuldlos an dem Unfall wieder gehen gelassen.
       
       ## Auf dem Verkehrsunfall wurde offiziell ein Suizid
       
       Um den Unfall vollends zu vertuschen, wurde Göçers Witwe von der Polizei
       erzählt, ihr Mann habe Suizid begangen. Doch als sie zum Krankenhaus kam,
       hatten sich dort bereits fast tausend Motorradkuriere eingefunden. Sie
       hatten gehört, dass ihr Kollege bei einem Unfall getötet worden war, und
       verlangten Aufklärung.
       
       Auch schaltete sich [1][Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu] ein
       und ließ das Video der Straßenüberwachung, die den Unfall gefilmt hatte,
       veröffentlichen. Darauf ist zweifelsfrei zu sehen, wie der Kurier ohne
       eigenes Verschulden von dem Mercedes in voller Fahrt erfasst und zur Seite
       geschleudert wird. Jetzt war die Empörung groß.
       
       Doch als die Justiz wegen des massiven öffentlichen Drucks Haftbefehl gegen
       Mohamed Scheich Mohamud erließ, war er nicht mehr auffindbar. Er war längst
       geflohen und nach Dubai ausgeflogen.
       
       Darauf machten die Gewerkschaften und die Opposition Druck. „Wir wollen
       Gerechtigkeit für unsere Arbeitnehmer“, sagte İmamoğlu. Der linke
       Gewerkschaftsdachverband demonstrierte vor dem somalischen Konsulat. Die
       Staatsanwaltschaft erließ einen internationalen Haftbefehl, doch aus
       Somalias Hauptstadt Mogadischu kommt keine Reaktion.
       
       Für die türkische Regierung droht die Fahrerflucht zum politischen Fiasko
       zu werden. Denn Somalia ist für die Türkei nicht irgendein Land, sondern
       das wichtigste Standbein für Präsident Erdoğan in Afrika. Über Somalia, wo
       die Türkei ihre größte Botschaft weltweit betreibt, soll Afrika für die
       türkische Wirtschaft erschlossen werden. Somalias Präsident ist dafür ein
       unerlässlicher Partner.
       
       ## Die Türkei ist in Somalia an vorderster Front tätig
       
       In keinem Land in Afrika [2][ist die Türkei so engagiert wie im]
       krisengeschüttelten Somalia. Als 2011 eine verheerende Dürre tausende Tote
       forderte und das Land in weiten Teilen noch von der islamistischen
       al-Shabaab beherrscht wurde und sich deshalb kaum ein Ausländer ins Land
       traute, flog Erdoğan samt Gattin und etlichen Ministern nach Mogadischu, um
       das bis dahin größte türkische Hilfsprogramm im Ausland für die
       muslimischen Brüder und Schwestern am Horn von Afrika in Gang zu setzen.
       Seitdem ist die Türkei in Somalia an vorderster Front tätig.
       
       [3][Türkisches Militär] hat eine große Garnison eingerichtet und trainiert
       somalische Soldaten für den Anti-Terror-Kampf gegen al-Shabaab. Türkische
       Firmen betreiben den Flughafen und den Hafen von Mogadischu. Präsident
       Hassan Scheich Mohamud, der seit Juni 2022 im Amt ist, war schon von 2012
       bis 2017 Präsident und ist ein guter Bekannter von Erdoğan. Dass sein Sohn
       in der Türkei lebt, ist kein Zufall.
       
       Empörte Demonstranten haben mittlerweile ein „Wanted“ Plakat an der Mauer
       der somalischen Vertretung angebracht. Bürgermeister İmamoğlu verkündete:
       „Wir werden diesen Fall verfolgen, bis unseren Arbeitern Gerechtigkeit
       widerfährt“. In ihrer Not kündigte die Regierung inzwischen an, die
       Polizisten anzuklagen, die den Präsidentensohn laufen ließen.
       
       15 Dec 2023
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jürgen Gottschlich
       
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