# taz.de -- Historiker über die Deutschen: „Andere sind da eher gelassener“
       
       > Sind die Deutschen moralischer als andere? Der Historiker Frank Trentmann
       > hat eine Geschichte des deutschen Gewissens von 1942 bis heute
       > geschrieben.
       
 (IMG) Bild: Wiedergutmachung gleich Wiedergutwerdung? Bundeskanzler Konrad Adenauer 1966 bei Premierminister Ben Gurion in Israel
       
       wochentaz: Herr Trentmann, sieben Jahre haben Sie an ihrem monumentalen,
       900-seitigen Buch über Deutschland und die Deutschen gearbeitet. Haben Sie
       nun herausgefunden, was deutsch ist? 
       
       Frank Trentmann: Deutsch zu sein, bedeutet, ständig mit moralischen Fragen
       zu ringen. Die moralischen Themen ändern sich im Laufe der Zeit, aber es
       gibt ein ständiges Tauziehen, und dabei wird aus verschiedenen Richtungen
       gezogen. Nur wenige Deutsche machen sich gar keine Gedanken über Gut und
       Böse. Ich denke, die Deutschen tragen eine Art Spiegel mit sich herum, in
       den sie schauen und sich ständig vergewissern wollen, auf dem richtigen
       Pfad zu sein. Und wenn sie denken, dass sie das nicht sind, dann machen sie
       sich Sorgen darüber. Andere sind da eher gelassener.
       
       Sie selbst sind in Hamburg geboren und Mitte der 1980er zum Studium nach
       England gezogen. Heute lehren Sie, nach einer längeren Station in den USA,
       als Professor für Geschichte in London. Blicken Sie als langjähriger Expat
       auf die Deutschen aus einer besonderen Erkenntnisposition? 
       
       Sicherlich nehme ich vieles, über das ich in meinem Buch schreibe, mit
       einer Mischung aus Nähe und Distanz wahr. Ich begreife mich als
       historischer Anthropologe. Das Buch richtet sich dezidiert an ein deutsches
       wie auch an ein nichtdeutsches Publikum. Es ist teilweise erschreckend, wie
       wenig etwa die Briten über Deutschland und seine Geschichte abseits der
       Person Hitler wissen. In Deutschland hingegen hält man vieles aus der
       eigenen Geschichte unhinterfragt für selbstverständlich. Das wird gerade
       aus einer gewissen Distanz und beim Blick auf einen längeren Zeitverlauf
       deutlich. Dabei gibt es so viel Spannendes, was man neu sehen und erzählen
       kann.
       
       „Aufbruch des Gewissens“ ist weder eine unilineare Erfolgsgeschichte noch
       eine polemische Abrechnung mit den Deutschen. Sie schildern immer wieder
       auch die Ambivalenzen, Widersprüche und Spannungen der Deutschen im Umgang
       mit moralischen Fragen. Können Sie ein Beispiel dafür nennen? 
       
       Als Startpunkt meiner Studie habe ich den Winter 1942/43 gewählt, mit der
       vernichtenden Niederlage von Stalingrad. Zusammen mit der dann immer
       umfassenderen Bombardierung der „Heimatfront“ wirft dies für eine
       zunehmende Zahl von Deutschen Fragen auf über frühere Gewissheiten: etwa
       dass man einen „gerechten Krieg“ kämpft oder diesen letztlich auch gewinnen
       wird. In dieser nun für einen selbst schrecklichen Realität beginnen einige
       Deutsche sich die ersten Gedanken über eine mögliche Mitschuld an der
       Ermordung von Juden, Kriegsgefangenen und Zivilisten zu machen. Andere
       dagegen ziehen den genau umgekehrten Schluss und fühlen sich bestärkt in
       ihrer paranoiden, antisemitischen Fantasie, dass die Juden angeblich
       Deutschland vernichten wollen, und fordern selbst ihre totale Vernichtung.
       Gleichzeitig versuchen alle ein Selbstbild vom eigenen Gut-Sein
       aufrechtzuerhalten.
       
       Die Adenauer-Ära gilt heute vor allem als graue, biedere Zeit der
       Restauration. Sie teilen diese Einschätzung nur zum Teil. Warum? 
       
       In den 1950er Jahren gab es auch viele radikale Entwicklungen, in der die
       moralische Lage des Landes getestet und neu ausgerichtet wurde:
       Lastenausgleich, Rentenreform und Generationsvertrag, Westorientierung und
       Wiederbewaffnung und auch die vielen Massendemonstrationen dagegen.
       Bemerkenswert ist insbesondere, wie Adenauer die mit Israel und der Jewish
       Claims Conference ausgehandelte „Wiedergutmachung“ durch diplomatisches
       Geschick nicht nur gegen die Widerstände der vielen Ex-Nazis und Mitläufer
       durchgesetzt hat. Gegenwind hat Adenauer auch von seinen
       christdemokratischen Parteigenossen und seinem liberalen Justizminister
       Thomas Dehler erhalten. Dehler vertrat die Überzeugung, dass man moralische
       Verpflichtungen nicht mit Geld abzahlen könne. Insgesamt war die
       Wiedergutmachung ein Schritt von historischer Bedeutung, der die deutsche
       Verantwortung für Verbrechen anerkannte. Sie wurde aber auch als „Blutgeld“
       kritisiert und schloss viele Opfergruppen aus. Für die deutsche
       Mehrheitsgesellschaft bot die „Wiedergutmachung“ zudem die Chance, die
       eigene Mitverantwortung für und in der NS‑Zeit auf den Staat abzuwälzen.
       
       Im Ausland galt Deutschland in Bezug auf die Aufarbeitung der
       NS-Vergangenheit lange Zeit als vorbildlich – trotz aller Versäumnisse und
       der häufig auch anzutreffenden Doppelmoral. Inzwischen sind jedoch immer
       mehr Stimmen gerade aus dem linksliberalen Milieu zu hören, die den
       Deutschen einen „Schuldkomplex“ attestieren. Wie ordnen Sie diese
       Entwicklung ein? 
       
       Der postkoloniale Diskurs, aus dem diese Form der Kritik an der deutschen
       Erinnerungspolitik kommt, hat in Großbritannien oder in den USA seit Langem
       eine viel größere Bedeutung. Es überrascht nicht, dass diese Art der Kritik
       inzwischen auch in Deutschland präsenter geworden ist und ein Licht auf
       dortige Defizite geworfen hat. Denn in der Tat hinkte die Aufarbeitung der
       eigenen Kolonialgeschichte in Deutschland lange Zeit weit hinterher und hat
       noch heute etwa in Schulbüchern keinen angemessenen Platz. Doch diese
       Defizite kausal darauf zurückzuführen, [1][dass die Deutschen zu viel über
       den Holocaust reden, ist geschichtswissenschaftlich und politisch einfach
       Unsinn.] Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass man in den
       heutigen Debatten zu Israel auch in anderen Ländern sehr viel um sich
       selbst kreist. [2][In Großbritannien etwa werden aktuell die zivilen Opfer
       in Gaza von vielen Menschen symbolisch so stark aufgeladen], weil darüber
       auch der eigene Status in einer multiethnischen und multireligiösen
       Gesellschaft oder allgemein die Themen Kolonialismus und Rassismus
       verhandelt werden. Auch woanders gibt es eine Vergangenheit, die in
       Debatten zu aktuellen Themen nachwirkt.
       
       In ihrem Buch schildern Sie, wie sich gerade in den 1960ern und 70ern viele
       Deutsche stark für die „Verdammten dieser Erde“ in der weiten Ferne
       interessiert haben – nicht aber für den [3][Rassismus gegenüber den
       sogenannten Gastarbeitern im eigenen Land]. Hängt das auch damit zusammen,
       dass sich die Deutschen so lange nicht als „Einwanderungsgesellschaft“
       begriffen haben? 
       
       Die Sturheit, mit der so lange an der Illusion festgehalten wurde,
       Deutschland sei kein Einwanderungsland, ist schon sehr beachtlich. Erst
       recht auch, weil schon lange vor der Ankunft der sogenannten Gastarbeiter
       die Gesellschaft von Migration geprägt war. Bereits um die Jahrhundertwende
       hatten sich etwa viele Polen gerade im Ruhrgebiet angesiedelt. Allerdings
       haben sich schon zu Zeiten der Gastarbeiteranwerbung auf lokaler Ebene
       viele Wohlfahrtsorganisationen und Behörden stärker für Integration und
       gegen Diskriminierung eingesetzt. Insgesamt beobachte ich in Deutschland
       noch heute eine Tendenz, das Fremde und Anderssein nicht als Ressource oder
       Bereicherung zu sehen, sondern vor allem als Problem. Dazu kommt die
       Haltung, Probleme häufig nur bei „den anderen“ zu verorten – siehe etwa die
       Idee eines bloß aus muslimisch geprägten Ländern importierten
       Antisemitismus. Im Ausland wird all das wahrgenommen und häufig als
       Selbstbezogenheit und mangelnde Öffnung und Dialogbereitschaft kritisiert.
       
       Im Juli nächsten Jahres wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Einige Monate
       später finden in Sachsen, Brandenburg und Thüringen Landtagswahlen statt –
       mit düsteren Aussichten angesichts der hohen Umfragewerte der AfD. Was
       verrät diese Parallelität über die Deutschen? 
       
       Es gibt eine lange Geschichte von antiliberalen Tendenzen und Mentalitäten
       in Deutschland. Damit beziehe ich mich nicht nur auf die DDR, sondern auch
       auf die Bundesrepublik. An der AfD ist vieles neu, aber sie baut auch auf
       einem historischen Fundament auf. Dazu gehören unter anderem die regionalen
       Erfolge der rechtsextremen Schill-Partei in Hamburg oder der Republikaner
       etwa in Bayern. Viele AfD-Positionen wurden in der Zeit vor Merkel von der
       CDU vertreten. So etwa die Idee einer unerschütterlichen heterosexuellen
       „Normalfamilie“, die heute durch den „Gender-Wahnsinn“ bedroht werde. In
       den sogenannten neuen Bundesländern kommt ein tief verankertes Gefühl der
       mangelnden Anerkennung und des eigenen Nicht-gehört-Werdens hinzu. Dort ist
       das Verständnis von Demokratie stärker plebiszitär und gegen die Eliten
       gerichtet. Auf den Punkt gebracht wird das durch den Slogan „Wir sind das
       Volk“. Rückblickend kann man sagen, dass die Idee, die AfD durch
       Ausgrenzung zum Einschlafen zu bringen, nicht funktioniert hat. Dafür
       braucht es andere Strategien. Erst recht, wenn sie über 30 Prozent der
       Stimmen erhält, wie das bei den kommenden Landtagswahlen wahrscheinlich
       ist.
       
       1 Jan 2024
       
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