# taz.de -- Hochwasser in Niedersachsen: Auf einmal mitten im Gefahrengebiet
       
       > In Lilienthal ist ein Deich gerissen, Nachbarn packen mit an. Auch unser
       > Autor füllt auf Familienbesuch Sandsäcke, allerdings mit mulmigem Gefühl.
       
 (IMG) Bild: 28.12.2023, Lilienthal: Wohnhäuser stehen in einem überfluteten Ortsbereich an der Wörpe
       
       LILIENTHAL taz | Um 18.07 Uhr fährt endlich der Laster mit den neuen Säcken
       vor. „80.000 Stück“, sagt ein Junge neben mir. Wir stehen am Rande
       Lilienthals an einer Umgehungsstraße auf einem Feld, er in Gummistiefeln
       und Arbeitshose, ich in Turnschuhen und Jeans. So viele Helfer*innen
       wuseln herum, man kann sie spontan kaum zählen. Es könnten Hunderte sein.
       Dass an der Sandsackfüllstation Unterstützung gebraucht wird, hatte sich
       schnell rumgesprochen. Mir hatte ein Nachbar Bescheid gesagt.
       
       Der Boden ist aufgeweicht, der Matsch quillt mir hoch bis zu den Knöcheln
       und durchnässt Schuhe und Strümpfe. Hier draußen sind es schneidige acht
       Grad. Egal. Jetzt heißt es schaufeln. Den Sand in den Sack, dreiviertel
       voll, maximal. Gut zubinden und nach hinten durchreichen, auf eine Palette
       stapeln. Weiter.
       
       [1][Seit Tagen kämpft die niedersächsische Gemeinde Lilienthal gegen das
       Hochwasser]. Der Vorort von Bremen hat es wie Rinteln oder Nordhausen in
       die Nachrichten geschafft. An den Flüssen Wörpe und Wümme steht das Wasser
       bis kurz unter der Deichkante. Die Wiesen des Naturschutzgebiets um die
       Wümme sind bis zum Horizont überschwemmt. Das sollte die Flüsse entlasten,
       reicht aber nicht. Feuerwehr und Technisches Hilfswerk versuchen Tag und
       Nacht, die Deiche mit Sandsäcken zu befestigen.
       
       Auf einmal in einem Gefahrengebiet zu sein, ist irgendwie unwirklich.
       Freunde rufen voller Sorge an und erkundigen sich. Dabei ist das hier nicht
       das [2][Ahrtal] und natürlich sind auch nicht alle Anwohner*innen
       Lilienthals von dem [3][Hochwasser] betroffen. So stelle ich mir das bei
       vielen Katastrophen vor: Schon zwei, drei Straßen weiter merkst du
       eigentlich nichts mehr von dem Unglück, isst deinen Feiertagsschmauß und
       holst den Wein aus dem trockenen Keller. Bis du das Radio wieder anmachst
       oder mal spazieren gehst.
       
       Draußen erleuchten mobile Scheinwerfer-Stationen die Einsatzorte, rangieren
       die Bagger, düsen die Feuerwehren durch die Straßen und wummern die Bauern
       mit ihren Traktoren und Anhängern voller Sandsackpaletten vorbei. Es ist
       ihre große Stunde. Unermüdlich sah man sie tags zuvor noch Wassermengen in
       Güllefässen durch den Ort transportieren, an der einen Ecke aufgefüllt, an
       der anderen wieder abgelassen.
       
       ## Aussichtsloser Kampf gegen Wasser im Keller
       
       Wohl ein aussichtsloser Kampf, so wie der vieler Anwohner*innen nahe
       des Flusses. Mit Pumpen hatten sie die Keller versucht trocken zu legen,
       reihenweise lief das Wasser aus den kleinen Gartenschläuchen in den
       Rinnstein. Sandsäcke gab es schon länger nicht mehr für Privatleute und für
       einzelne vollgelaufene Keller hat die Feuerwehr auch keine Kapazitäten
       mehr.
       
       Noch am Dienstag konnte ich einen Anwohner am Mühlenbach auf seinem
       Grundstück direkt an der Wörpe herumstapfen sehen. Die Fluten des Flusses
       und sein pitoreskes Holzhaus trennte nur der kleine Deich, wo das Wasser
       bis an die Kante reichte, während der Mann etwa einen Meter tiefer im
       bereits knöcheltief durchnässten Gras seines Gartens einsank. Er räumte
       irgendwas von hier nach da, ich glaube einen Gartenstuhl, und tat so als
       würde das etwas nützen. Etwa 200 Meter weiter mühten sich die
       Feuerwehrleute bereits die gleiche Wasserkante mit einer Reihe an
       Sandsäcken auf dem Deichweg aufzuhalten.
       
       Am Mittwochnachmittag dann heißt es „Deichriss“ an der Wörpe und am späten
       Abend: Evakuierung. „Alle Anwohnenden werden gebeten unverzüglich alle
       wichtigen Dinge wie u.a. wichtige Dokumente, Kleidung und Medikamente für
       einige Tage einzupacken und ihre Häuser zu verlassen“, schreibt die
       Gemeinde in der Nacht zu Donnerstag um 1.52 Uhr auf ihrem neu
       eingerichteten Whatsapp-Kanal. Betroffen ist das Wohngebiet an der Wörpe
       und auch der Mann mit dem schönen Holzhaus. Wer nicht bei Verwandten und
       Freunden unterkommt, wird in eine Turnhalle gebracht. Die Hauptstraße ist
       gesperrt. Es gibt Anweisungen, wie Strom und Gas sicher abzuschalten sind.
       
       ## Wo kriegt man ein Kurbelradio her?
       
       Ein mulmiges Gefühl kommt in mir auf. Braucht man Essensvorräte? Wie ist
       das mit Trinkwasser? Was, wenn der Strom ausgeht? Die Gedanken wirken immer
       noch übertrieben, das Hochwasser ist auf der anderen Seite des Dorfes.
       Trotzdem lade ich mir die [4][Notfall-Informations-App Nina] vom
       [5][Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe] auf mein
       Smartphone. Da steht als Tipp bei Hochwasser, vorsorglich sollte in jedem
       Haushalt ein batteriebetriebenes Radio oder ein Kurbelradio zur Verfügung
       stehen. Wo kriegt man sowas?
       
       Wenige Stunden zuvor ist die Stimmung beim Sandschippen fast noch
       ausgelassen. Alle wollen etwas tun. Wer mitdenkt, hat eine Schaufel und
       eine Warnweste dabei und feste Schuhe an. Im Matsch unter den Scheinwerfern
       weichen geübte Hierarchien auf. Neuankömmlinge stehen erstmal herum. Eine
       Teenagerin, die schon länger mithilft, weist eine Männergruppe ein. „Kleine
       Reihen bilden“, sagt sie. „Vorne füllen, hinten zubinden.“ Ein Typ in
       neongelber Arbeitsjacke teilt seine Erinnerungen: „20 Jahre bei der
       Marine“, sagt er. Da hätten sie auch immer Ketten gebildet, wenn der
       Proviant an Bord musste. Jetzt hört auch er auf das Mädchen.
       
       ## Was wäre, wenn neben mir ein Fascho schaufelt?
       
       Ich treffe einen alten Schulfreund. Er steht auf einmal neben mir in der
       Kette. „Bist du auch wegen der Nazis da?“ fragt er und lacht. Wir waren
       früher gemeinsam antifaschistisch aktiv. Es ist ein Scherz, auch er ist
       selbstverständlich zum Helfen hier. „Man würde sich schlecht fühlen, wenn
       man nicht dabei wäre“, sagt er.
       
       Tatsächlich hatte ich kurz darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn neben mir
       ein Fascho schaufelt – zwei bekannte Rechte wohnen direkt um die Ecke. Ist
       das in einer Notsituation noch wichtig? Die Begegnung bleibt mir erspart,
       aber es ist das, was passiert: ein Zusammenrücken der Gemeinschaft, die
       jetzt notwendig und gut ist und mich gleichzeitig abschreckt. Im
       Katastrophenfall zählt nichts mehr als die Tat, die Anweisung und die
       Uniform. Rechte finden das attraktiv.
       
       Mir tut beim Sandschippen schon nach dem dritten Sack das Handgelenk weh.
       Ich schwitze, mein Rücken meldet sich und die Turnschuhe waren keine gute
       Idee. Nach vier Stunden ist der Sand abgefüllt. Ich halte nicht ganz so
       lange durch. Abends gibts dann noch Raclette.
       
       28 Dec 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [3] /Hochwasser-in-Deutschland/!5981647
 (DIR) [4] https://www.bbk.bund.de/DE/Warnung-Vorsorge/Warn-App-NINA/warn-app-nina_node.html
 (DIR) [5] https://www.bbk.bund.de/DE/Home/home_node.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Jean-Philipp Baeck
       
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