# taz.de -- Christa Pfafferott Zwischen Menschen: Zersprungene Realität
       
       > Manchmal bricht Märchenhaftes in das Leben und lässt es besonders klar
       > erscheinen. Und manchmal beginnt das mit einem Wolf auf den Gleisen.
       
 (IMG) Bild: „Es tut uns leid, wir stehen wegen eines Tiers auf der Strecke.“ Etwas später wird es präziser: „Ein Wolf ist auf den Schienen.“
       
       Manchmal bricht Märchenhaftes in das Leben und lässt es besonders klar
       erscheinen. Draußen ist Winter, drinnen erfüllt ein Kichern und Quatschen
       den Zug. Viele junge Menschen sind in den Abteilen. Babys, Kinder und eine
       Gruppe Teenager. Sie lachen und necken sich. Ein Vorhang aus Freude umgibt
       sie. Sie sind alle in Leinenkostüme gekleidet: Junge Mönche, Ritter mit
       Bartflaum laufen durch die Gänge. Sie wirken stolz auf ihre Besonderheit,
       die sie als Gruppe eint. Sie erzählen, dass sie Pfadfinder seien und sich
       für eine Mittelalterveranstaltung im Süden verkleidet hätten. Ihre
       Lebensfreude ist ansteckend.
       
       Die Kinder in den Abteilen hocken friedlich auf dem Schoß der Eltern, vor
       sich Bücher, Bildschirme oder Tupperdosen mit geschnittener Paprika.
       
       In einem Viererabteil vor einem großen Fenster sitzen ein Vater, eine
       schwangere Mutter und Kind. Das Kind hat Kopfhörer auf und schaut mit
       verträumten Augen hinaus. Irgendwann bemerken alle, dass der Zug stehen
       geblieben ist. Eine Durchsage ertönt: „Es tut uns leid, wir stehen wegen
       eines Tiers auf der Strecke.“ Etwas später wird es präziser: „Ein Wolf ist
       auf den Schienen. Er wurde nun eingefangen. Die Polizei wartet noch auf den
       Tierschutz.“
       
       „Weiter“, sagt ein etwa zweijähriges Mädchen und schaut in die karge
       Landschaft draußen: „Weiter.“
       
       Ihre Eltern erklären ihr, dass das nicht ginge, weil ein Wolf auf den
       Schienen sei.
       
       ## Ein Sprung in der Scheibe
       
       Ein Wolf. Was mag das für ein Wolf sein? Ist er tollwütig, gefährlich oder
       verängstigt? Sitzt er mit zitterndem rundem Rücken auf den Schienen? Etwas
       eigentümlich Mystisches mischt sich mit dem Wolf in diese Reise, die von
       mittelalterlichen jungen Menschen flankiert ist.
       
       Die Polizei wartet weiter auf den Tierschutz und gibt die Strecke nicht
       frei. Erst nach mehr als einer Stunde Verspätung scheint der Wolf versorgt
       zu sein, ohne dass mehr zu seinem Schicksal bekannt wird. Als der Zug
       weiterfährt, verweisen vor dem Fenster keine Spuren auf ihn. Als hätte es
       ihn nicht gegeben, dabei hat der Wolf eine Stunde Zeit im Leben aller hier
       geprägt. Schnell nimmt der Zug volle Geschwindigkeit auf.
       
       Krrrk. Auf einmal knackt es laut. Ein Geräusch, wie wenn etwas Hartes
       bricht. „Was war das?“, fragt das Kind nebenan im Viererabteil erschrocken.
       
       „Die Scheibe ist gesprungen“, sagt die Mutter und schaut zum Fenster.
       „Mitten während der Fahrt.“ Über das ganze Glas erstrecken sich plötzlich
       spinnenwebartige Risse.
       
       „Wir müssen hier weg!“ Hastig steht die Familie auf und gibt dem
       Zugbegleiter Bescheid.
       
       Kurz darauf ertönt wieder eine Durchsage: „Manchmal ist einfach der Wurm
       drin. Nun ist eine Scheibe kaputtgegangen. Die müssen wir erst einmal
       absichern.“
       
       „Das war der Wolf“, sagt eine Frau und lacht, zieht wie selbstverständlich
       zwischen zwei Sonderbarkeiten eine Verbindung. „Durch den Wolf ist die
       Scheibe zersprungen.“
       
       ## Zugbegleiter flicken die zersprungene Scheibe
       
       Der Zug hält nun außerplanmäßig in einem kleinen Bahnhof. Mit großer
       Ernsthaftigkeit bewegen sich ein älterer großer und ein jüngerer kleiner
       Zugbegleiter mit einer Klappleiter und einer großen Rolle Plastikfolie
       durch den Zug. Sie könnten ein Duo in einem Comic sein, unterwegs zu einem
       Einsatz.
       
       Die Zugbegleiter arbeiten draußen an der Scheibe. Schließlich kommen sie
       wieder zurück, sie wirken zufrieden damit, die Scheibe gesichert und etwas
       Wichtiges geschafft zu haben.
       
       Der Zug hat nun mittlerweile zwei Stunden Verspätung. Als er den Bahnhof
       erreicht, ertönt die Durchsage: „Vielen Dank, dass sie mit uns gelitten
       haben.“ Die Fahrgäste lachen.
       
       Später steigt ein junges Paar dazu, das nichts von den vorherigen
       Vorkommnissen weiß. Selbstverständlich setzt es sich in das Abteil vor die
       zerrissene Scheibe, die mit einer großen durchsichtigen Folie geklebt
       wurde. Sie unterhalten sich leise auf Japanisch und beugen sich über eine
       Schale mit warmem Essen. Es hat etwas Schönes, wie die Winterlandschaft wie
       ein zerbrochenes Mosaik an ihnen vorbeizieht. Wie sie vor der zersprungenen
       Realität sitzen, die sich manchmal so magisch offenbart.
       
       13 Jan 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Christa Pfafferott
       
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