# taz.de -- Nachruf auf Politologen Alfred Grosser: Der unermüdliche Vermittler
       
       > Mit 99 Jahren ist der Politologe Alfred Grosser verstorben. Kein anderer
       > setzte sich so beharrlich für die deutsch-französische Annäherung ein.
       
 (IMG) Bild: Mit Humor hat er die deutsch-französischen Beziehungen analysiert: der Publizist, Politologe und Soziologe Alfred Grosser, hier 1981
       
       PARIS taz | Immer wenn es zwischen Paris und Berlin knirschte, gab es
       diesen einen kompetenten Gesprächspartner. Er nahm dann selbst das Telefon
       ab, um meistens ausführlich in einem Interview die Zusammenhänge zu
       erklären, mit witzigen Randbemerkungen als Zugabe. Das war der unersetzbare
       [1][Alfred Grosser], ein lebendes Sachbuch der europäischen Geschichte des
       20. Jahrhunderts. Der deutsch-französische Politologe ist nun wenige Tage
       nach seinem 99. Geburtstag verstorben. Alfred Grosser wurde als Deutscher
       am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren, er starb als Franzose in
       Paris.
       
       Die französische Staatsbürgerschaft hat er mit 12 Jahren erhalten, drei
       Jahre nachdem seine Eltern mit ihm und seiner Schwester nach Frankreich
       emigriert waren, da sein Vater als Professor für Kinderheilkunde nach
       Hitlers Machtergreifung als Jude ein Lehrverbot erhalten hatte. Als die
       Nazis dann Frankreich besetzten, das Vichy-Regime die Judenverfolgung
       mitorganisierte und deutsche Flüchtlinge auszuliefern drohte, fand die früh
       verwitwete Mutter mit ihren beiden Kindern Zuflucht im südfranzösischen
       Saint-Raphaël. Zurückblickend sprach er mit Dankbarkeit von seiner
       „Assimilation“, während er sich erinnerte, wie er „in der Frankfurter
       Schule als kleiner Jude schlecht behandelt“ wurde. Er erinnerte sich jedoch
       ohne Rachsucht, diese war ihm fremd.
       
       Auch wenn er sich, nicht erst in den letzten Lebensjahren, eindeutig als
       Franzose fühlte, hat die doppelte Identität sein Leben und seine Tätigkeit
       als Journalist, Historiker und Politologe bestimmt. Schon bald nach seinem
       Germanistikstudium in Aix-en-Provence und einem Doktorat bei Raymond Aron,
       einem der größten französischen Intellektuellen der Nachkriegszeit,
       unternahm Grosser 1947 eine erste Reise in das besiegte und zerstörte
       Deutschland.
       
       Niemand hat die unermüdliche Bemühung um die deutsch-französische
       Annäherung mit seiner Methode der ständigen gegenseitigen kritischen und
       vergleichenden Beobachtung wie Alfred Grosser verkörpert. Und niemand wird
       ihn mit seinem auf einem unglaubliches Wissen um die Geschichte der beiden
       Länder basierenden Scharfsinn und ironischem Witz ersetzen können. Mit
       Grosser wird man eine Form des französisch-deutschen Zwiegesprächs zu Grabe
       tragen. Es bleibt das Ideal einer Verständigung, die anachronistisch
       gewordene Grenzen überwindet, aber auch von der Vergangenheit geschaffenen
       Klischees und Vorurteilen geprägt ist, die Grosser unermüdlich bekämpft
       hat.
       
       Er wisse nicht, „was ‚die Deutschen‘ sind und was ‚die Franzosen‘ sind“,
       antwortete Grosser in einem Interview für die Basler Zeitung 2003 auf die
       Frage, ob es stimme, dass „die Franzosen die Deutschen verstehen, aber
       nicht lieben, und dass die Deutschen die Franzosen lieben, aber nicht
       verstehen“. Auch ob die beiden Nationen „komplementär“ seien, wisse er
       nicht. Klar aber sei, dass sie sich näher gekommen sind.
       
       Einer der Höhepunkte dieser Annäherung war der Élysée-Vertrag, der die
       deutsch-französische Freundschaft besiegelte und ein wichtiges Zeichen für
       ein friedliches Europa setzte. Doch die Versöhnung und Freundschaft, für
       die auch Grosser unermüdlich wirkte, setzte schon nach dem Zweiten
       Weltkrieg ein, nicht erst mit Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. Davon
       bleibt heute eine institutionalisierte Zusammenarbeit, aber auch das
       Bewusstsein verpasster Chancen und neuer Missverständnisse.
       
       Das war für Grosser nie ein Grund, seine Hoffnung aufzugeben. Er habe ein
       „Temperament, das Positive zu sehen“, sagte er 2018 in einem Interview mit
       der Deutschen Welle, in dem er auch fast scherzhaft erzählt, wie er oft,
       aber ohne Angst vor Reaktionen mit seinen kritischen Analysen gegen die
       politische Routine oder die nationale Selbstzufriedenheit stichelte: „Ich
       sage viel Böses über Deutschland in Deutschland und viel Böses über
       Frankreich in Frankreich. Mir nimmt das niemand übel.“
       
       Im Gegenteil wurden ihm viele Ehrungen zuteil: 1975 der Friedenspreis des
       deutschen Buchhandels für seine Rolle als „Mittler zwischen Franzosen und
       Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer
       Kontinente“ oder 2018 von Präsident Macron den höchsten Rang der
       Ehrenlegion, das Großkreuz.
       
       Der französische Botschafter in Deutschland, François Delattre, schreibt in
       einem Nachruf auf [2][X], ehemals Twitter, alle, die für die
       deutsch-französische Freundschaft tätig seien, müssten sich nach Grossers
       Tod heute „verwaist“ fühlen, er bleibe für sie „ein humanistisch geprägtes
       Bindeglied und eine große Inspirationsquelle“. Ebenfalls auf [3][X] würdigt
       Cornelia Woll, Professorin des Alfred-Grosser-Lehrstuhls an der Pariser
       Schule für Politikwissenschaft Sciences Po, ihren Ex-Mentor: „Wir verlieren
       einen der Größten. Von Frankfurt bis Paris hat niemand so sehr unsere
       Vision der deutsch-französischen Versöhnung geprägt wie er.“
       
       Zu Lebzeiten hat er auch irritiert, nicht nur, wenn er dank seiner
       detaillierten Kenntnis oft, wie man in Frankreich sagt, mit dem Finger dort
       berührte, wo es wehtut. Er unterstrich die besonders problematischen
       Differenzen, die für Spannungen sorgen konnten. Und Grosser hat sich nicht
       nur zu bilateralen Fragen und Europa geäußert, sondern auch zur
       Außenpolitik, zu den USA und als atheistischer Jude namentlich auch in sehr
       kritischer Weise zu den Regierungen in Israel und insbesondere zur
       Siedlungspolitik auf Kosten der Palästinenser.
       
       Der 2018 verstorbene ehemalige Le-Monde-Direktor Daniel Vernet erinnerte
       sich, wie Grosser den jungen Deutschen oft im Gespräch über den Zweiten
       Weltkrieg, die Judenverfolgung und die Schuldfrage eingeschärft habe: „Ihr
       tragt keine Schuld, aber ihr müsst an Hitler und an das Dritte Reich denken
       und (darum) heute überall die Menschenrechte verteidigen. Das gilt auch für
       die Palästinenser.“ Mehrfach war Grosser wegen seiner Israel-Kritik
       beschuldigt worden, er billige oder fördere den Antisemitismus.
       
       Er erwiderte darauf, es gehe nicht an, dass man jegliche Kritik
       verunglimpfe. Bei der Publikation seines bei Rowohlt erschienen Buchs „Von
       Auschwitz nach Jerusalem“ sprach er wie Martin Walser vor ihm [4][in der
       taz] (28.9.2009) von einer „Auschwitz-Keule“: „Jedes Mal, wenn ein
       Deutscher sagt: ‚Die israelische Politik ist falsch‘, heißt es: ‚Denk an
       Auschwitz!‘“
       
       Empathie als leitendes Prinzip 
       
       Das hat ihm heftige Reaktionen eingebracht, und eine solche Stellungnahme
       würde ihm heute, im aktuellen Kontext, wahrscheinlich sowohl in Deutschland
       als auch in Frankreich erst recht polemische Angriffe einbringen.
       
       Seine von Kant und vom Humanismus inspirierte Moralphilosophie bestand
       unter anderem darin, nach dem Prinzip der Empathie sich stets an die Stelle
       des anderen zu setzen und sich die Frage zu stellen, was der andere
       eventuell erleide. Vernet zitiert auch einen Grosser, der sich ironisch zu
       seiner Selbstsicherheit und zu seiner „komplexen Identität“ [5][äußern
       konnte]: „Ich bin Mann, Pariser, Gatte, Vater, Beamter, Professor. Wenn ich
       Automobilist bin, hasse ich die Radfahrer. Wenn ich auf dem Fahrrad bin,
       hasse ich die Automobilisten (…) Meine Identität scheint mir die Summe
       dieser Erscheinungen zu sein – und mehr, so hoffe ich, als bloß eine
       dominierende Synthese davon.“
       
       36 Jahre lang lehrte er am Institut Sciences Po. Seinen zahlreichen
       ehemaligen Schülern bleibt er mit seinen prägnanten und humorvollen
       Kommentaren zu Frankreich und Deutschland, die für ihn eine einzige Heimat
       darstellten, in Erinnerung. Er hinterlässt ihnen einen Nachlass von rund 40
       sowohl auf Deutsch wie Französisch verfassten Büchern.
       
       8 Feb 2024
       
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 (DIR) [1] https://en.wikipedia.org/wiki/Alfred_Grosser
 (DIR) [2] https://twitter.com/Amb_Delattre/status/1755526699360362700
 (DIR) [3] https://twitter.com/Cornelia_Woll/status/1755494192636174342
 (DIR) [4] /Archiv-Suche/!573135&s=Interview+Grosser&SuchRahmen=Print/
 (DIR) [5] https://www.lemonde.fr/disparitions/article/2024/02/08/alfred-grosser-la-morale-l-identite-et-israel_6215381_3382.html
       
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