# taz.de -- Ende der Musikplattform Pitchfork: Eine 0.0 von 10.0-Situation
       
       > Pitchfork, eines der wichtigsten Musikmedien der Welt, wird vom
       > Männermagazin „GQ“ geschluckt. Das Ende des Musikjournalismus ist es zum
       > Glück nicht.
       
 (IMG) Bild: Musikerin Katherine Paul beim Pitchfork Music Festival 2023 in Chicago. Das Musikmedium Pitchfork wird von „GQ“ geschluckt
       
       Nur einmal, da fanden selbst die Nerds von Pitchfork, die zuvor zehn Jahre
       lang stoisch jedes noch so nischige Stück Rockmusik besprochen hatten,
       keine Worte mehr. Die australische Rockband Jet hatte 2006 ihr zweites
       Album „Shine On“ veröffentlicht und bei Pitchfork fand „Ray Suzuki“
       (höchstwahrscheinlich ein Pseudonym) es [1][so schlecht], dass neben der
       Wertung 0.0 von 10.0 statt einem Text nur ein Video von einem Affen zu
       sehen war, der sich selbst in den Mund pinkelt. Diese verzweifelte Geste
       des Unverständnisses zeigt, so komisch das klingt, warum Pitchfork zu einem
       der wichtigsten internationalen Musikmedien der letzten Jahrzehnte werden
       konnte: Grundsätzlich war in der Auseinandersetzung mit Musik alles
       möglich.
       
       Jetzt soll Pitchfork für immer verstummen. Letzte Woche wurde publik, dass
       der Eigentümer-Verlag Condé Nast die Seite ausgerechnet in die Redaktion
       des hauseigenen Männermagazins GQ eingliedern wird. Pitchfork hatte nicht
       mehr gut genug „performt“, wie es in einer geleakten internen Memo an die
       Belegschaft heißt. Chefredakteurin Puja Patel und weitere
       Mitarbeiter*innen haben die Redaktion bereits verlassen. Wie viele der
       19 redaktionellen Stellen erhalten bleiben, ist unklar. Die Nachricht
       sorgte in den letzten Tagen für Bestürzung. Weltweit trauerten
       Musiker*innen, Musikjournalist*innen und Fans um ihre
       Lieblingsplattform und es schwebte die Frage im Raum: War’s das jetzt
       endgültig mit Musikjournalismus?
       
       Um die Aufregung zu verstehen, muss man die Geschichte von Pitchfork
       genauer betrachten. Plattenfan Ryan Schreiber gründete die Website 1996 in
       Chicago als Musikblog für edgy Gitarrenmusik, in einer Zeit also, als
       Printmagazine noch das Maß aller Dinge waren und ein Internetzugang noch
       mit dem nervigen Quietschen des Modems verbunden war. Pitchfork zeichnete
       sich von Anfang an vor allem dadurch aus, dass man Musik dort mehr als
       ernst nahm, egal wie misslungen oder abseitig sie zunächst erschien. Die
       Plattform lebte dabei lange vor allem von ihren Rezensionen, in denen
       Autor*innen versuchten, Musik in kenntnisreichen, referenzgeladenen und
       manchmal einfach gaga Texten zu durchdringen.
       
       ## Bestwertungen als Trophäe
       
       Die zugehörigen Wertungen zwischen 0.0 und 10.0 konnten für Bands einen
       Karrierepush bedeuten oder eine große Schmach. Pitchfork machte einen Kult
       um Musik, Lesende machten einen Kult um Pitchfork-Rankings, davon lebte die
       Seite. Auch wenn das dafür sorgte, dass viele die Texte gar nicht richtig
       lasen und nur die Nummern checkten.
       
       Dabei, und auch das machte ihren Reiz aus, veränderte sich die Plattform
       stetig. Am Anfang schrieben hauptsächlich Männer über Gitarrenmusik, doch
       vor allem in den letzten Jahren wurde die ganze Bandbreite von Pop-Musik
       von vielen weiblichen und auch queeren Stimmen analysiert. Das ist sicher
       ein Grund dafür, warum Pitchfork viele Mitbewerber überlebte. Denn in den
       letzten Jahren wurden reihenweise konventionelle Musikmedien eingestellt
       oder zusammengeschrumpft – von New Musical Express in UK bis hin zu Spex in
       Deutschland. Das Publikum für Texte über Musik wird nicht gerade größer.
       
       Die Wahrheit ist aber auch: Obwohl Condé Nast in dieser Geschichte das
       ultimative Böse darstellt, weil es das immer queerer und weiblicher
       werdende Biotop in ein Medium eingliedert, das für eine eher konservative
       Männlichkeit steht, hätte Pitchfork ohne den großen Geldgeber womöglich gar
       nicht den Journalismus liefern können, für den es in den letzten Jahren
       auch stand. Einen Journalismus, der sich nicht nur mit der Exegese von
       Musik selbst, sondern in Essays und Recherchen auch mit den Machtstrukturen
       drumherum auseinandersetzte.
       
       ## Neuer Fokus auf Recherchen
       
       Im Jahr 2022 veröffentlichte Pitchfork [2][eine Recherche von Redakteur
       Marc Hogan] zu Missbrauchsvorwürfen gegen den Arcade-Fire-Frontmann Win
       Butler, die große Wellen schlug. Interessant ist das auch deswegen, weil
       Pitchfork einst mitverantwortlich für den Aufstieg von Arcade Fire waren,
       sie in höchsten Tönen lobten.
       
       Mit der Frage „How did we get here?“ (Wie sind wir hier gelandet?) beginnt
       die Rezension zu „Funeral“ (9.7 von 10.0), dem Debütalbum der Band, und es
       folgt ein feinfühliger Text über Emotionen im Pop und den Wert des Albums
       in diesem Kontext. Dass man bei Pitchfork bereit dazu war, die alten Helden
       zu stürzen, auch wenn es schmerzhaft ist, spricht für das journalistische
       Ethos der Plattform. Denn größtenteils kommen #MeToo-Recherchen gerade
       nicht von Musikmedien und Kulturressorts.
       
       Vor wenigen Tagen schrieb Hogan, der mittlerweile nicht mehr für Pitchfork
       arbeitet, [3][in einem persönlichen Text für den Rolling Stone] darüber,
       dass er überhaupt nur durch das Condé-Nast-Geld eine feste Redakteursstelle
       bekommen konnte. Ohne die Rückendeckung wären solche Recherchen schwer zu
       stemmen gewesen. Andererseits: Ein launiger Essay über die unsichtbare
       Arbeit von Müttern im Pop-Betrieb, wie ihn die Autorin Allison Hussey im
       letzten Jahr für Pitchfork schrieb, ist bei GQ undenkbar. Es stellt sich
       ohnehin die Frage, warum Condé Nast mit dem verbliebenen Pitchfork-Team
       nicht einfach die Musikberichterstattung vom hauseigenen Ober-Nerd-Magazin
       Wired verstärkt.
       
       Wie also, um auf die Arcade-Fire-Rezension zurückzukommen, sind wir hier
       gelandet?
       
       Die eine Antwort darauf gibt es nicht. Aber dass Pitchfork vor allem an dem
       Medium Text festhielt und Podcasts oder Videocontent eher stiefmütterlich
       behandelte, ist sicher ein Grund für die mangelnde „Performance“. Denn
       gerade dort passiert aktuell interessanter Musikjournalismus. Als
       Online-Plattform ausschließlich auf Text als Medium der Auseinandersetzung
       zu setzen, hat einen ähnlichen Effekt, wie Musik auch 2024 ausschließlich
       auf Vinyl zu veröffentlichen.
       
       Es ist also zwar schade, dass Pitchfork als Plattform verloren geht; aber
       die wichtigen journalistischen Stimmen, die Pitchfork hervorgebracht hat,
       nehmen ihre Aufgabe viel zu ernst, um einfach zu verstummen. Genauso wie
       Musiker*innen sich schon immer an neue Technologien und Plattformen
       anpassen und dadurch im besten Fall eine Entwicklung durchleben, werden
       auch sie sich neue mediale Formate erschließen und weitermachen. Egal, ob
       das Newsletter sind oder TikTok-Channels.
       
       24 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://pitchfork.com/reviews/albums/9464-shine-on/
 (DIR) [2] https://pitchfork.com/news/arcade-fires-win-butler-accused-of-sexual-misconduct-by-multiple-women-frontman-responds/
 (DIR) [3] https://www.rollingstone.com/music/music-features/pitchfork-music-gq-1234949447/
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Johann Voigt
       
       ## TAGS
       
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