# taz.de -- Plagiatsvorwurf in der Türkei: Skandal um Starautorin Elif Shafak
       
       > Ein Gerichtsurteil hält die türkische Literaturszene in Atem: Die
       > bekannte Autorin Elif Shafak soll ihren ersten großen Erfolg
       > abgeschrieben haben.
       
 (IMG) Bild: Elif Shafak, Star der türkischen Literatur – hat sie plagiiert?
       
       Ein Gerichtsurteil gegen [1][Elif Shafak] erschüttert derzeit die türkische
       Literaturszene. Letzte Woche wurde die Starschriftstellerin von einem
       Istanbuler Gericht für schuldig befunden, einen Roman der Journalistin und
       Autorin Mine Kırıkkanat teilweise kopiert zu haben.
       
       Die Aneignungen aus dem Roman „Fliegenpalast“ von Kırıkkanat für ihren
       Roman „Läusepalast“ gingen weit über zulässige Inspiration hinaus, meinten
       die Richter und verurteilten Shafak wegen der Verletzung des Urheberrechts
       Mine Kırıkkanats.
       
       Während der materielle Schaden für Shafak minimal ist, es geht um
       Schadenersatz von gerade einmal 300 Euro, ist die immaterielle Auswirkung
       des Urteils umso größer. Es zieht eine heftige Auseinandersetzung in der
       türkische Intellektuellenszene nach sich. Elif Shafak bestreitet den
       Vorwurf vehement.
       
       Die Gutachter, auf die das Gericht sich stützt, seien literarisch völlig
       ungebildete „Wörterzähler“, deren Urteil sei künstlerisch völlig daneben,
       so die Schriftstellerin. Man könne den literarischen Gehalt eines Buches
       doch nicht daran messen, wie viele gleichlautende Wörter in einem anderen
       Roman auch vorkommen würden. Shafak kündigte an, in Berufung zu gehen, um
       den Imageschaden für sich und ihr Werk zu begrenzen.
       
       ## Vor allem als Journalistin bekannt
       
       Mine Kırıkkanat ist in der Türkei vor allem als Journalistin bekannt, sie
       hat viele Jahre in Frankreich und Spanien als Korrespondentin gearbeitet,
       aber vor Jahren auch schon Romane geschrieben. Ihr 1990 erschienenes Buch
       „Fliegenpalast“ ist eine 142 Seiten umfassende Novelle über ein
       Appartementhaus in Beyoğlu, dem europäischen Viertel von Istanbul, wo in
       einigen Bereichen auch Künstler, Schwule, Transvestiten etc. ihren
       Rückzugsort gefunden haben.
       
       Kırıkkanats Fliegenpalast hat fünf Mieter, die in dem Buch porträtiert
       werden. Zwölf Jahre später veröffentlichte Elif Shafak das Buch
       „Läusepalast“, mit dem sie ihren großen Durchbruch als Schriftstellerin
       feierte. Der Läusepalast ist ebenfalls ein Appartementhaus in Beyoğlu, das
       dem „Fliegenpalast“ sehr ähnlich sieht.
       
       Es hat zehn Mieter, in denen sich nach Auffassung von Mine Kırıkkanat die
       Charaktere ihrer Protagonisten weitgehend spiegeln. Während die heute
       72-jährige Kırıkkanat als Autorin eher unbedeutend blieb, startete die 20
       Jahre jüngere Elif Shafak mit dem Buch ihre Karriere, die sie später, als
       sie bereits in London lebte, auch zu einer international erfolgreichen
       Schriftstellerin machte.
       
       Es greift aber wohl zu kurz, Mine Kırıkkanat, wie es mancherorts in den
       sozialen Medien geschieht, als Motiv ihrer Klage nur Neid auf die
       Erfolgsautorin zu unterstellen. Zwar schildern einige Leute, die Kırıkkanat
       persönlich kennen, sie als stur und eigensinnig, trotzdem steckt einiges
       mehr in dem Konflikt, was auch die große Anteilnahme an der
       Auseinandersetzung zeigt.
       
       ## Moderne Kemalistin
       
       Mine Kırıkkanat ist eine moderne Kemalistin, die für das
       Säkularitätsprinzip in der türkischen Gesellschaft kämpft und die
       Islamisierung, wie die regierende AKP unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan
       sie betreibt, entschieden ablehnt. Sie und ihre Unterstützer werfen Elif
       Shafak vor, mit dem Islam und Islamismus immer wieder geflirtet zu haben
       und nicht zuletzt damit zum Erfolg gekommen zu sein.
       
       Elif Shafak hat in den nuller Jahren als Kolumnistin für Zaman, die damals
       große Zeitung der islamischen Gülen-Sekte, gearbeitet und später deren
       Chefredakteur Eyüp Sağlık geheiratet. Vor allem aber hatte sie 2010, als
       die Erdoğan-Regierung dabei war, sich die Justiz gefügig zu machen, eine
       wichtige Rolle in der Bewegung „Yetmez ama evet“ gespielt.
       
       Das war eine öffentlich sehr laute Gruppe von eher linksliberalen
       Intellektuellen, die das [2][Referendum], mit dem die Regierung unter
       anderem die Strukturen der Justiz änderte, aber gleichzeitig auch die
       Abschaffung der Straffreiheit der Putschgeneräle vom September 1980 zur
       Abstimmung stellte, mit dem Slogan „Yetmez ama evet“ unterstützte.
       
       ## „Yetmez ama evet“ begrüßte die Justizreform
       
       Die Bewegung begrüßte die Justizreform, nach der die Politik das letzte
       Wort bei der Ernennung der obersten Richter haben sollte. Säkulare sahen
       darin einen Eingriff in die Gewaltenteilung. Im Rückblick ist klar, dass
       dieses Referendum die Grundlage für Erdoğans autoritative Politik legte.
       Als Erdoğan mit der Gülen-Sekte 2014/15 brach, war Elif Shafak längst in
       London und schaute sich die zunehmende Repression, zu dem Zeitpunkt auch
       schon gegen die Protagonisten von „Yetmez ama evet“, von außen an.
       
       Dieser Hintergrund bringt die politischen Lager der nuller Jahre jetzt noch
       einmal gegeneinander auf, was dazu führt, dass Shafak sich beklagt, sie
       würde im Netz von den Kemalisten „gelyncht“.
       
       ## Konflikt mit literarischen Mitteln lösen
       
       Am Sonntag wurde deshalb ein Aufruf mit 130 Unterschriften veröffentlicht,
       darunter so namhafte Leute wie Orhan Pamuk, Zülfü Livanelli und Murathan
       Mungan, die fordern, einen literarischen Konflikt auch mit literarischen
       Mitteln zu lösen. Es solle ein Gremium aus Schriftstellern sich die beiden
       Romane anschauen, die als Literaten darüber befinden könnten, ob es sich
       tatsächlich um ein Plagiat handelt.
       
       Die Unterzeichner sind wohl eher der Meinung, dass es zwar Ähnlichkeiten
       gebe, man aber nicht von einem Plagiat sprechen könne. Vor allem fürchten
       sie, dass der Konflikt von der Regierung genutzt werden könnte, die sowieso
       schon begrenzte [3][Meinungsfreiheit] weiter unter Druck zu setzen.
       
       1 Feb 2024
       
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