# taz.de -- Die Wahrheit: Kein Schluck Trinkgeld!
       
       > Deutsche Stammtische im Visier: Die Union plant ein drastisches Verbot
       > für die sowieso schon schwer gebeutelte Gastronomie und ihr Personal.
       
       Zehn Prozent und mehr im Restaurant sparen? Davon träumen derzeit Millionen
       hungriger Bürger! Die Rückkehr zum Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent
       zusammen mit den Preissteigerungen der letzten Jahre hat den einfachen,
       hart arbeitenden Leuten das Essengehen restlos vergällt. Geht es allerdings
       nach einem Klausurbeschluss der CDU/CSU vom vergangenen Wochenende, könnte
       diese Utopie schon bald in Erfüllung gehen: weniger zahlen, mehr spachteln!
       
       Dazu soll das Trinkgeld in der Gastronomie radikal abgeschafft werden,
       sobald die Union in absehbarer Zeit die Regierungsgeschäfte übernimmt. Die
       üblicherweise verschenkten etwa 10 Prozent des Rechnungsbetrags verbleiben
       christlichen Finanzexperten zufolge im Portemonnaie der zufriedenen
       Kundschaft und können in die nächste Schlemmerei investiert werden. Mit
       diesem Befreiungsschlag, der den Besitzstandswahrern im traditionell
       meinungsfreudigen Kellnertum gewiss nicht schmecken wird, verfolgt die
       Union gleich mehrere Ziele auf einmal.
       
       Zum einen soll ein rigides Zeichen gegen Rechtsextremismus, Korruption,
       Ungleichbehandlung und Steuerhinterziehung gesetzt werden. Zum anderen
       sollen die Umsätze in der Gastronomie, die nach dem Auslaufen der
       Mehrwertsteuersenkung einbrechen, stabilisiert werden. Zum dritten und
       wichtigsten jedoch soll ein Konflikt befriedet werden, der polarisiert, die
       Gesellschaft spaltet und seit jeher zu den heiß umkämpften Diskursfeldern
       an Deutschlands Stammtischen gehört – vor allem dann, wenn die Bedienung an
       den Tisch kommt und es ans Bezahlen geht.
       
       Denn Trinkgeld ist ein Thema, zu dem es keine zwei Meinungen gibt. Sondern
       drei, vier oder sogar noch erheblich mehr! Zum Beispiel sieben, ach, runden
       Sie’s einfach auf – auf 12,50 Euro! Die Union möchte, um bei der Bekämpfung
       des Faschismus nichts falsch zu machen, eine ausgewählte Gruppe von kleinen
       Leuten piesacken, die nicht zu ihren Stammwählern zählt und für die
       aufgeheizte Stimmung an Deutschlands Stammtischen verantwortlich gemacht
       werden kann. Um so günstiger also, dass im Gastgewerbe die Zahl der
       Menschen mit Migrationshintergrund besonders hoch ist!
       
       ## Vier Arten Trinkgeldgeber
       
       Was kann die Wissenschaft zu diesem vertrackten Problem beitragen?
       „Verhaltenswissenschaftler sortieren die Menschheit grob in vier
       Kategorien“, erklärt uns Dr. Ingo Limpitz vom Institut für
       Trinkgeldwissenschaft in Essen. „Es gibt diejenigen, die grundsätzlich kein
       Trinkgeld geben, weil Barfrauen oder Bierzapfer ja ein Festgehalt bekommen
       und Bezahlung eine Sache des Wirts sei. Dann diejenigen, die immer
       großzügig sind, weil sie gerne angeben oder freundlichen Service honorieren
       wollen. Daneben diejenigen, bei denen es mal so und mal so ist. Und
       schließlich die Gruppe der Leute, die tendenziell eher Trinkgeld
       entgegennehmen, weil sie darauf angewiesen sind“, lächelt Limpitz und
       steckt seiner Sekretärin, die ihm einen Kaffee bringt, einen 20-Euro-Schein
       zu.
       
       „Interessant ist jedoch“, fährt der Forscher fort, nachdem wir ihm einen
       50-Euro-Schein zuschieben, um ihn zum Weitersprechen zu bewegen, „dass es
       denjenigen, die grundsätzlich kein Trinkgeld geben und jenen, die wiederum
       sehr viel geben, grundsätzlich tausendmal besser schmeckt als Leuten, die
       sich nicht auf ihr Essen konzentrieren können – weil sie die ganze Zeit
       darüber nachdenken, wie wenig Trinkgeld sie später geben können, ohne
       gehasst oder bespuckt zu werden!“
       
       Das sei, fasst der Verhaltenswissenschaftler zusammen, eines der
       überraschenden Ergebnisse der letzten Studie: „Ohne Trinkgeld schmeckt es
       den meisten besser, lediglich die Personen im Service werden maulig: Hier
       zeigt sich Klassenkampf als Kulturkampf. Wer freilich unbedingt Anerkennung
       für Leistung zeigen will, bringt seiner Lieblingsbedienung mal eine Packung
       Lindor-Kugeln oder einen Discounter-Blumenstrauß mit. Kassiererinnen
       kriegen ja auch keine ‚Tips‘“.
       
       ## Geist der Pflichterfüllung
       
       „Gastfreundlichkeit kommt aus dem Herzen oder aus dem christlichen Geist
       der Pflichterfüllung“, bestätigt CDU-Chef Friedrich Merz. „Wer damit reich
       werden will, soll Wirt werden, nicht Bedienung oder Thekenkraft. Zumal
       Kellnern ja keine Arbeit ist, verglichen mit dem Fraktions- oder
       Flugzeugführen oder dem stressigen Jonglieren mit Millioneninvestments. Im
       Englischen heißt der Beruf Waiter, weil man den ganzen Tag rumsteht, Essen
       und Getränke zum Personalrabatt kriegt und mit den Kolleginnen quasselt.
       Dafür sollte man eigentlich Geld bezahlen!“
       
       Auch bei den Gästen, die von den neuen Regularien betroffen wären, kommt
       der Plan der Union gut an. „Endlich wird mal was für uns normale Leute
       getan, mir gibt auch niemand Trinkgeld“, schmunzelt zum Beispiel Zahnärztin
       Heidemarie Schmegel aus Braunschweig.
       
       „Wenn ich keine Tips gebe, spare ich 600 Euro im Monat und kauf mir bald
       ein eigenes Gasthaus“, freut sich Jonas Malber, Durchschnittsverdiener in
       Sindelfingen.
       
       „Ich spare zwar nur 80 Euro, aber ich bin immerhin mit ’m Jacky und der
       Swetlana aus dem ‚Türmchen‘ gut befreundet“, seufzt Torben Büll aus
       Velbert, „denen werde ich ein paar Schnäpse ausgeben müssen.“
       
       Viele Leute ärgern sich allerdings, dass sie faule und unbotmäßige
       Dienstleister demnächst nicht mehr durch beschämend geringe Trinkgeldsummen
       bestrafen können. Das Servicepersonal wurmt hingegen, dass es sich an
       ausgewiesenen Geizhälsen nicht mehr rächen kann, indem es Eiswasser auf die
       Kleidung verspritzt, und dass es beim Feierabendgetränk nicht mehr vom
       US-amerikanischen Trinkgeldterror fantasieren kann. Wichtig für die
       Akzeptanz des Trinkgeld-Aus wird vor allem sein, ob neben der stationären
       Gastronomie auch die Lieferdienste von dem Verbot betroffen sind.
       
       „Folgerichtig wäre es eigentlich, sie davon auszunehmen“, bekennt ein
       anonym bleiben wollender CDU-Hinterbänkler. „Wir privilegieren Lieferando
       und Co ja auch bei der Mehrwertsteuer. Entscheidender bleibt deshalb die
       Frage: Weshalb haben wir uns von den Serviceleuten im Wirtshaus so lange
       seelisch unter Druck setzen und auf der Nase herumtanzen lassen?“
       
       17 Feb 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mark-Stefan Tietze
       
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