# taz.de -- Düsteres aus einem Hamburger Keller: Geglückte Verstörung
       
       > Der Gothicpostpunk der Band Xmal Deutschland um Sängerin Anja Huwe traf
       > den Nerv der 1980er Jahre. Jetzt steht die Wiederentdeckung an.
       
 (IMG) Bild: Die bleichen Gesichter da oben: Xmal Deutschland 1982 in Hamburg, Anja Huwe in der Mitte
       
       Für eine Gallionsfigur der gewöhnlich von Weltschmerz gezeichneten
       Gothic-Szene ist [1][Anja Huwe] bestens gelaunt. Gerade kommt sie von einem
       Interview mit den Betreibern von Bandcamp. Bei der
       US-Musikverkaufsplattform waren sie ziemlich perplex, als die
       Vorbestellungen für die neu aufgelegten ersten beiden Singles der Hamburger
       Band Xmal Deutschland in nur 90 Minuten ausverkauft waren. „So was haben
       die noch nicht erlebt“, sagt Huwe und strahlt.
       
       Dazu muss man wissen, dass die 1980 gegründeten Xmal Deutschland, deren
       Sängerin Huwe war, seit gut 30 Jahren nicht mehr aktiv sind. Ihre Werke
       sind lang vergriffen. Nach den Regeln des Musikgeschäfts müsste die Band
       längst vergessen sein. Ist sie aber nicht. Im Gegenteil. „Es wirkt fast
       so“, sagt Huwe, „als würde die Saat unserer Musik erst jetzt richtig
       aufgehen.“
       
       Neben einer Compilation der frühen Singles und Samplerbeiträge von Xmal
       Deutschland erscheint dieser Tage auch Anja Huwes erstes Soloalbum „Codes“.
       Beides veröffentlicht das hippe New Yorker Label Sacred Bones.
       
       Seit Tagen gibt Huwe dazu Interviews im Akkord. Bis zum Sommer reicht das
       britische Indie-Label 4AD noch ein üppiges Boxset hinterher, darin die
       gesuchten 80er-Jahre-Alben „Fetisch“ und „Tocsin“, samt BBC-Radio-Sessions
       und Maxis. Auch „Devils“, 1989 erschienen, das letzte Album unter dem Namen
       Xmal Deutschland, wird demnächst neu aufgelegt.
       
       Seit der ersten Ankündigung dieser neuen Veröffentlichungen Anfang 2024
       ploppt es in Huwes Posteingang: „Es trudeln Konzertangebote aus der ganzen
       Welt ein.“ Sie findet das schmeichelhaft und überraschend. Es gibt ja
       bislang noch gar keine reanimierte Band. Alles passiert so plötzlich. So
       war das eigentlich von Beginn an.
       
       ## Aus dem Rahmen fallen
       
       1980 hängt Huwe mit ein paar Freundinnen im Proberaum befreundeter
       Hamburger Punk- und New-Wave-Bands ab. Ein fieser Keller ist das, aber sie
       können die Instrumente nutzen. Wirklich spielen tut damals noch keine von
       ihnen. Fiona Sangster, gerade erst mit der Mutter aus Schottland nach
       Hamburg gezogen, kann etwas Klavier spielen. Der Korg-Synthesizer macht ihr
       Spaß. Manuela Rickers, frisch von der Schule, kennt ein paar
       Gitarrenakkorde. [2][Alle fünf eint eine Vorliebe für düstere britische
       Bands: Psychedelic Furs, Joy Division, Bauhaus …]
       
       Schon ein paar Monate später werden sie mit einem Demotape bei Alfred
       Hilsberg vorstellig. Der bringt damals fast jede Woche auf seinem
       Indielabel ZickZack die Single einer neuen Band raus. „Lieber zu viel als
       zu wenig“, lautet sein Motto. „Hilsberg sagte sofort zu, ich glaube,
       hauptsächlich, um uns wieder aus seiner Wohnung zu bekommen“, erinnert sich
       Huwe.
       
       Die Songs von Xmal Deutschland fielen völlig aus dem Rahmen der Zeit.
       Keyboards kappten den Zugang zu den letzten Punkausläufern. Für die Neue
       Welle fehlte das künstlerisch-experimentelle. Für Pop wiederum waren Look
       und Sound der Hamburgerinnen viel zu düster. „Schwarze Welt“ ist ein
       dunkel-treibender Song um eine schlichte Korg-Skizze, aggressive
       Gitarrenriffs, ein rudimentärer, wackeliger Beat, dazu Huwes galliger
       Gesang.
       
       „Xmal Deutschland passte nirgends rein“, [3][erinnert sich auch Alfred
       Hilsberg heute auf Nachfrage.] „Die hatten von Anfang an einen
       außergewöhnlichen eigenen Stil und das nötige Selbstbewusstsein. Das hat
       viele Leute verstört. Natürlich musste ich das auf ZickZack
       veröffentlichen.“
       
       ## Ruf nach London
       
       Die Band aber wollte weiter. Huwe erinnert sich an einen Tag 1982 in ihrer
       legendären WG in den ehemaligen Redaktionsräumen des Männermagazins St.
       Pauli Nachrichten. Musiker von den Einstürzende Neubauten wohnten dort,
       dazu [4][Abwärts-Sänger Frank Ziegert] und die aus Westberlin gekommene
       Christiane F., deren Autobiografie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, ein
       Dauerbestseller war. Huwe und ihre Band hörten sich die damals gerade
       veröffentlichte zweite ZickZack-Single „Incubus Succubus“ an. „[5][Alex
       Hacke] kam rein und sagte, ‚ihr klingt so britisch, was wollt ihr hier?
       Sucht euch doch ein englisches Label.‘ Stimmt eigentlich, dachten wir.“
       
       Wieder geht alles schnell. Nachdem sie ihre beiden Singles an 4AD in London
       geschickt hatten, meldet sich umgehend deren Labelboss, reist nach Hamburg,
       hört im Proberaum zu und beschließt: „Kommt nach London, dann nehmen wir
       ein Album auf.“
       
       Anderthalb Jahre zuvor musste sich die Schlagzeugerin im Hafenklang Studio
       in Hamburg noch einzählen lassen. Was das Schema Strophe-Refrain-Strophe
       sollte, wusste niemand von ihnen so genau. Aber reinreden ließen sie sich
       trotzdem nicht. Dann stehen sie in einem Studio in der Welthauptstadt der
       Popmusik. Nebenan proben die Synthiepopper Yazoo und Blancmange. Abends,
       wenn Xmal Deutschland mit ihren Aufnahmen fertig sind, übernimmt das
       Londoner Studio eine noch nicht sehr bekannte Teenieband, Depeche Mode
       heißen die.
       
       ## Wildeste Single des Jahres
       
       In England finden die Hamburger:Innen erstmals ein Publikum. Radio-DJ
       John Peel spielt ihre Songs in heavy rotation. Schon im November 1982 lädt
       er sie zur ersten (von insgesamt fünf) BBC-Sessions ein. Das Musikmagazin
       ZigZag ruft „Incubus Succubus“ zur „wildesten Single des Jahres“ aus.
       Obwohl in Großbritannien kaum jemand ein Wort versteht, von dem, was Anja
       Huwe singt.
       
       Aber als sich im November 1982 der schwere Vorhang zum ersten Auftritt in
       London öffnet, ist es Liebe auf den ersten Blick. Auf der Bühne diese
       unnahbaren blassen deutschen Musiker:Innen mit farbigen
       Zuckerwasserfrisuren, im Zuschauerraum ein Meer herausgeputzter Gothics,
       Postpunks und anderer Aliens. „Das war so atemberaubend“, erinnert sich
       Huwe. „Wir haben alles doppelt so schnell gespielt.“
       
       In England verfängt der raue, treibende Sound zwischen Siouxsie & The
       Banshees, Synthwelten und einer düster-stampfenden Rhythmusgruppe.
       Hierzulande, ist Huwe überzeugt, wären Xmal Deutschland damals in den
       Mühlen der Verwertungsmaschine der Neuen Deutschen Welle zermalmt worden.
       „Eine Mädchenband mit deutschen Texten? Die hätten uns gnadenlos
       ausgeschlachtet. Auch deshalb wollten wir weg.“
       
       Während Xmal Deutschland in den zehn Jahren ihres Bandbestehens ausgiebig
       durch Großbritannien, die USA und selbst Japan touren, bleibt die Band in
       ihrer Heimat immer der Geheimtipp einer überschaubaren Wave- und
       Gothic-Szene.
       
       Fast logisch also, dass auch die Wiederentdeckung dieser Band zusammen mit
       dem ersten Soloalbum Anja Huwes erneut vom Ausland aus betrieben wird. „Ich
       mag die frühen ZickZack-Alben [6][von Abwärts, Geisterfahrer und den
       Neubauten,] aber diese beiden Xmal-Singles sind für mich unerreicht“,
       erklärt Caleb Braaten, Chef des New Yorker Labels Sacred Bones, der taz.
       „Ihr rebellischer Sound ist einzigartig und bis heute relevant. Ich bin
       enorm stolz, mit der Wiederveröffentlichung und dem Solo-Album zwei Teile
       von Anjas Geschichte veröffentlichen zu können.“
       
       Dabei wollte Huwe über lange Zeit gar nichts mehr zu tun haben mit ihrer
       musikalischen Vergangenheit. Wenige Jahre nach dem Ende der Band baute sie
       sich eine neue Karriere als bildende Künstlerin auf, pendelte zwischen New
       York, London und Hamburg. Anfragen nach Auftritten oder musikalischen
       Kooperationen lehnte sie durchweg ab. Erst der erzwungene Stillstand des
       Kulturbetriebs durch die Pandemie Anfang 2020 ändert diesen Beschluss. „Wir
       hatten ja auf einmal alle nichts mehr zu tun.“
       
       ## Ein jüdischer Partisan
       
       Als sie zufällig an ein Tagebuch eines jüdischen Partisanen, Moshe
       Shnitzki, gerät, der in den 1920er Jahren in den belarussischen Wäldern
       lebte, entzündet das Gedanken. Zusammen mit ihrer alten Freundin Mona Mur
       beginnt Huwe in deren Berliner Studio an Sounds und Songtexten zu arbeiten.
       „Diese beängstigenden Sätze und krassen Beschreibungen haben etwas bei mir
       ausgelöst, haben mich viel schreiben lassen, und das wollte ich zusammen
       mit Mona mit Sounds unterlegen.“
       
       Gut anderthalb Jahre arbeiteten Mur und Huwe an „Codes“. Auch die einstige
       Xmal-Deutschland-Gitarristin Manuela Rickers steuert ihrer unverkennbaren
       Gitarrenriffs bei. Im Verlauf der Arbeit merkt Huwe, dass ihr Werk immer
       aktueller wird. „Mich interessierte an den Tagebüchern, was
       Extremsituationen mit Menschen machen. Und als wir mit den Aufnahmen im
       Februar 2022 angefangen haben, überfällt Putin die Ukraine und zwingt
       Hunderttausende zur Flucht. Kaum ist das Album fertig, bricht in Israel
       dieser furchtbare Krieg los. Plötzlich gibt es in der realen Welt
       Parallelen zu diesen Stücken.“
       
       Der Eindruck täuscht nicht, die Musik auf „Codes“ klingt zeitgemäß, sie ist
       kein Aufguss alter Tage. Auch deshalb schließt Huwe eine
       Xmal-Deutschland-Reunion kategorisch aus. Düster klingt ihre Musik noch
       immer, natürlich. „Rabenschwarz“, die erste Single, startet mit Rickers
       typischen sägenden Gitarrensounds, um dann in monumentales Geboller zu
       münden. Ein Industrial-Alptraum, durch den Huwes heute noch düsterer
       klingender Gesang führt. „Pariah“, die zweite Single-Auskopplung, ist
       musikalisch sphärischer. Mona Murs Synthesizer-Biotop durchwuchert das
       gesamte Album und gibt den Xmal-Deutschland-Referenzen einen neuen Rahmen.
       
       Mal sehen, ob Anja Huwe diesmal ein deutsches Publikum findet.
       
       6 Mar 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Interview-mit-der-Kuenstlerin-Anja-Huwe/!5086653
 (DIR) [2] /40-Jahre-Gothic-Bewegung/!5868798
 (DIR) [3] /Biografie-ueber-Alfred-Hilsberg/!5291759
 (DIR) [4] /Abwaerts-Saenger-Frank-Z-ist-tot/!5986773
 (DIR) [5] /Montagsinterview-Alexander-Hacke/!5178383
 (DIR) [6] /Nachruf-auf-Musiker-Michael-Ruff/!5962993
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Gregor Kessler
       
       ## TAGS
       
 (DIR) Hamburg
 (DIR) Band
 (DIR) Gothic
 (DIR) Retrospektive
 (DIR) Neues Album
 (DIR) Hamburger Schule
 (DIR) Motorrad
 (DIR) Konzert
 (DIR) Musik
 (DIR) Mark Fisher
 (DIR) Schwerpunkt Stadtland
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) Hamburger Schule: Kein Schnee von gestern
       
       Ein Buch, ein Album und sogar ein Dokfilm widmen sich der Hamburger Schule
       aus den 1990ern. Diese Historisierung ist nicht altbacken, sondern wichtig.
       
 (DIR) Album und Tour von The Bevis Frond: Psychedelik als Brotberuf
       
       Die Gitarre singt nicht mehr ewig: Nick Saloman und sein britisches
       Bandprojekt Bevis Frond kommen noch mal auf Tour.
       
 (DIR) Einstürzende Neubauten in Berlin: Interessantes Gerümpel
       
       Vor 44 Jahren haben die Einstürzenden Neubauten zum ersten Mal in
       Westberlin gespielt. Ein fulminantes Konzert am Ostersonntag erinnerte
       daran.
       
 (DIR) Neues Album von Kle.ze: German Gothic
       
       Seit 2017 fällt Kle.ze mit einer eigenwilligen Interpretation von Gestus
       und Habitus der Gothic-Band The Cure auf. Das trifft auch auf „Erregung“
       zu.
       
 (DIR) Hauntology-Pop-Compilation: Unheimlich gruselt BRD-Noir
       
       Auf der Compilation „Gespensterland“ sind Musikerinnen und Musiker einer
       deutschen Undergroundszene vertreten, die das Geisterhafte in Songs
       abbilden.
       
 (DIR) Hamburger Sängerin über jüdische Musik: „Also habe ich Jiddisch gelernt“
       
       An jiddischen Liedern berührt Inge Mandos das Fehlen von Pathos. Um sie zu
       singen, sagt sie, müsse man auch die Sprache verstehen.
       
 (DIR) Interview mit der Künstlerin Anja Huwe: "Ich wollte nie ein Popstar werden"
       
       Früher war sie Punk, heute malt sie Punkte. Die Hamburger Ex-Punk-Sängerin
       Anja Huwe über Musik, die man sehen kann, und die Missgunst in der
       Kunstwelt.