# taz.de -- Irischer Roman „Der Stich der Biene“: Eine schrecklich normale Familie
       
       > Paul Murrays Familienroman „Der Stich der Biene“ spielt in einer heilen
       > irischen Kleinstadtwelt. Bis alles in der Finanzkrise zusammenbricht.
       
 (IMG) Bild: Burgruine in den Midlands
       
       „Der Stich der Biene“ von Paul Murray ist ein komplexes Buch, es wechselt
       ständig die Perspektive, die Zeit, den Erzählstil und die Atmosphäre. Und
       es ist ein lustiges, unterhaltsames Buch, es wird einem trotz der 650
       Seiten nie langweilig.
       
       „Wenn ein Buch fesselnd ist, dann ist einem die Seitenzahl egal“, sagt Paul
       Murray. „Umgekehrt fühlt es sich wie eine Plackerei an, wenn ein Buch fad
       ist, auch wenn es nur 200 Seiten hat.“
       
       Murray, Jahrgang 1975, ist ein Geschichtenerzähler, wie es sie in Irland
       seit Jahrhunderten gibt. Er kam schon als Kind mit Literatur in Berührung.
       Sein Vater war Professor für anglo-irisches Drama am University College
       Dublin, seine Mutter war Lehrerin. Murray studierte englische Literatur am
       Dubliner Trinity College und kreatives Schreiben an der University of East
       Anglia. Danach arbeitete er als Buchhändler und als privater Englischlehrer
       eines Geschäftsmannes in Barcelona. Er hasste den Job, weil der Katalane
       ihn ständig auf englische Grammatikfehler hinwies.
       
       Im „Stich der Biene“ geht es um die gutsituierte Familie Barnes, die in
       einer Kleinstadt in den irischen Midlands lebt: Dickie, der Vater, der den
       Autosalon seines Vaters übernommen hat; seine Frau Imelda, eine lokale
       Schönheit; die Tochter Cassie, die sich auf die Universität vorbereitet;
       und den 12-jährigen Sohn PJ, der mit der Pubertät zu kämpfen hat und sich
       für Videospiele, Süßigkeiten und Pornos interessiert.
       
       ## Wenn der Vater Bunker baut
       
       Das Buch ist deshalb fesselnd, weil es bei aller Komik auch dunkle Seiten
       gibt, es kommen unter anderem sexuelle Gewalt, Homophobie und der
       Klimawandel vor. Die heile Welt der Barnes’ bricht mit der [1][Finanzkrise
       von 2008] zusammen.
       
       Das Autogeschäft läuft nicht mehr, aber Dickie zieht sich in die Wälder
       zurück und fängt an, einen Bunker zu bauen. Imelda verscherbelt die
       Wertsachen der Familie auf Ebay, Cassie beschließt, sich bis zu den
       Abiturprüfungen zu betrinken, und PJ zwängt seine wachsenden Füße in seine
       alten, viel zu kleinen Schuhe, um die klamme Haushaltskasse nicht zu
       belasten.
       
       Murray erörtert in Rückblicken, wann und wie der Niedergang eigentlich
       begann. Dazu widmet er jedem Familienmitglied einen eigenen Teil. Dieselben
       Monate werden durch die Augen jedes Familienmitglieds beleuchtet.
       
       Den Anfang macht Cassie, die ihren Vater verehrt und ihre Mutter hasst,
       weil sie oberflächlich und kleinlich sei. Sie ist in eine toxische
       Freundschaft mit der hübschen Elaine verwickelt. „Selbst als sie sich die
       Zehennägel schnitt“, denkt Cass, „sah sie aus, als würde sie einen Pfirsich
       essen.“ Beide wollen unbedingt der Kleinstadt entkommen, in der die Leute
       „ihre Autos abbremsen, um zu sehen, wer du bist, damit sie dir zuwinken
       können“.
       
       ## Die Elternliebe bröckelt
       
       Der zweite Teil gehört PJ, der sich in den Wald zurückzieht, um der Prügel
       eines Fieslings zu entgehen, der Geld von ihm verlangt. PJ hat Angst, dass
       sich seine Eltern wegen der finanziellen Nöte scheiden lassen. Wenn die
       sicher geglaubte Elternliebe und die finanzielle Sicherheit bröckeln
       können, denkt er, warum dann nicht auch die ganze Welt? Im Laufe des Buches
       scheinen Klimakrise und Familienkrise miteinander zu verschmelzen.
       
       In Imeldas Teil verzichtet Murray auf jegliche Interpunktion, womit er auf
       ihren Mangel an formaler Bildung anspielt. Man erfährt, wie sie in Armut
       mit einem gewalttätigen Vater aufwächst; wie sie ihren Geliebten trifft,
       und zwar Frank, Dickies Bruder; wie Frank stirbt; und wie die Biene sie
       sticht, als sie Dickie an seiner Stelle heiratet, was wie eine Strafe
       scheint.
       
       Dickie, der sein Leben als Student am Dubliner Trinity College genießt,
       muss nach Franks Tod in die Kleinstadt zurückkehren, wo er aus Schuldgefühl
       den ungeliebten Autosalon des Vaters übernimmt, Imelda heiratet, seine
       Homosexualität unterdrückt und sich in sein Schicksal ergibt. Murray
       verstrickt die Erzählfäden geschickt bis zum grandiosen Finale.
       
       ## Recherche und Förderung
       
       Es habe rund fünf Jahre gedauert, das Buch zu schreiben, sagt er. „Ich
       musste nicht sonderlich tief recherchieren, es ging mehr darum, die
       Midlands genau darzustellen, aber das konnte ich recherchieren, indem ich
       mit Leuten redete. Ich bin in Dublin aufgewachsen, aber ein paar meiner
       besten Freunde haben Frauen aus den Midlands geheiratet, und die
       Geschichten, die sie mir erzählten, haben mich dazu inspiriert, das Buch
       dort anzusiedeln.“
       
       Wie immer beim Schreiben, komme es auf kleinste Details an, zum Beispiel
       die Ausdrücke, die die Menschen verwenden, sagt Murray: „Die Art, wie sie
       Hallo sagen, zum Beispiel. Da schwingt oft ein sarkastischer Fatalismus
       mit, als ob sie andeuten wollen, dass es keinen Sinn hat, mehr zu sagen.“
       
       „Der Stich der Biene“ stand auf der Shortlist des Booker-Preises 2023.
       Gewonnen hat ein anderer Ire: [2][Paul Lynch mit „Prophet Song“]. In einem
       Interview auf der Booker-Preis-Webseite antwortet Murray auf die Frage,
       warum [3][so viele neue, aufregende Bücher ausgerechnet in Irland]
       geschrieben werden: „Unsere Regierungsbehörde zur Entwicklung der Künste
       ist sehr aktiv und sorgt für die finanzielle Unterstützung von jungen und
       etablierten Schriftstellern. Das verschafft ihnen die Zeit, ihre Bücher zu
       schreiben.“ Darüber hinaus, sagt Murray, spielen Bücher in Irland eine
       größere Rolle als anderswo, die öffentlichen Bibliotheken und die Buchläden
       seien exzellent.
       
       Wie würde Murray selbst sein Buch beschreiben? Es „ist eine sehr lustige,
       traurige und wahrhaftige Geschichte der Familie Barnes, die im
       zeitgenössischen Irland spielt und mit erheblichem Scharfsinn und Mitgefühl
       geschrieben ist“. Stimmt.
       
       22 Mar 2024
       
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