# taz.de -- Taktik im Ukraine-Krieg: Verbranntes Öl
       
       > Die ukrainische Armee ist dazu übergegangen, immer öfter Objekte der
       > kritischen Infrastruktur in grenznahen russischen Gebieten anzugreifen.
       
 (IMG) Bild: Freiwillige und Studierende der Staatlichen Kunstakademie Kyjiw räumen Trümmer nach einem Raktetenangriff weg
       
       BERLIN taz | Im Osten Europas verspricht es im Frühling und Sommer heiß zu
       werden. In der Ukraine und Russland treibt die aktuelle Situation im
       Hinblick auf Waffen und Munition beide Seiten in den kommenden Wochen nicht
       so sehr dazu, den Feind an der Front zu vernichten, sondern insgesamt die
       Wirtschaft des anderen Landes zu zerstören und damit das Leben der
       Zivilbevölkerung schwer oder unerträglich zu machen.
       
       Fast jeden Morgen meldet die ukrainische Flugabwehr Angriffe russischer
       Drohnen und erklärt, dass die meisten von ihnen abgefangen worden seien,
       aber eine beträchtliche Anzahl ihre Ziele erreicht habe. Dem folgt die
       Klarstellung, dass einige Einrichtungen der kritischen Infrastruktur
       beschädigt worden seien, deren Zahl aber deutlich geringer sei als die der
       abgefeuerten Raketen. Infolgedessen trafen etliche Raketen auch
       militärische Ziele – vor allem in der Nähe oder direkt an der Frontlinie.
       Diese Niederlagen übergehen die ukrainischen Behörden, wann immer möglich,
       mit Schweigen.
       
       Kürzlich wurden aber auch russischer Angriffe auf Wohngebiete der Ukraine
       mit präzisionsgelenkten Bomben registriert. Die Explosion einer 1.500
       Kilogramm schweren Fliegerbombe in dem Ort Welyka Pyssariwka in der
       nordöstlichen Region Sumy sah aus wie ein kleiner Atompilz. Auch
       Artilleriebeschuss auf zivile Grenz- und Frontsiedlungen kommt häufig vor.
       
       Aus Syrien ist bekannt, dass Russlands Präsident Wladimir Putin noch
       brutaler kämpfen kann, etwa mit der gezielten Zerstörung von
       Krankenhäusern. In den vergangenen Monaten kommen bei den wichtigsten
       Angriffen hochwertige Hochpräzisionswaffen zum Einsatz, [1][um die
       Energieinfrastruktur der Ukraine zu zerstören und ihre Streitkräfte zu
       schwächen].
       
       ## Unangenehme Eindrücke
       
       Auf größte Resonanz stieß der massive Beschuss des Dnipro-Wasserkraftwerks
       am 2. März 2024. Kommentatoren sparten nicht mit historischen Analogien:
       1941 hatten Pioniere der sowjetischen Roten Armee das Kraftwerk schon
       einmal gesprengt, 1943 die deutsche Wehrmacht.
       
       Die russischen Angriffe auf ukrainische Kraftwerke sind in erster Linie
       durch das Bemühen motiviert, die Intensität der ukrainischen Angriffe auf
       strategische Ziele in Russland zu verringern – insbesondere Ölraffinerien
       und Treibstofflager. Immer wieder hinterlassen ein weithin sichtbares
       Leuchten und eine Rauchwolke über Einrichtungen der russischen
       Ölinfrastruktur neben spürbaren wirtschaftlichen Schäden einen sehr
       unangenehmen Eindruck bei Putins Untertanen, vor allem auch bei
       potenziellen Reservisten.
       
       Nach Angaben des US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) ist
       die russische Seite nicht in der Lage, eine große Zahl ziviler Objekte vor
       Angriffen ukrainischer Drohnen zu schützen. Daher will Russland mit der
       Zerstörung ukrainischer Kraftwerke, den Fabriken und Werkstätten, die diese
       Drohnen herstellen, den Strom kappen.
       
       Am 19. Dezember 2023 hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj
       gesagt, dass die Ukraine im kommenden Jahr eine Million Drohnen produzieren
       werde, an der Entwicklung seien etwa 200 Firmen beteiligt. Die Konstruktion
       der Geräte selbst und die Programmierung der Software dafür finden in
       unzählige Fabriken, Werkstätten, Garagen sowie sogar in Wohnungen und
       Datschen statt.
       
       ## Kaum Spielraum
       
       Daher ist es, aus Moskauer Sicht Verschwendung, russische Kinschal-Raketen,
       die jeweils eine halbe bis eine Million Dollar kosten, für Angriffe auf
       Hütten und ehemalige Computerspielklubs einzusetzen. Es macht daher viel
       mehr Sinn, diesen Hütten und Kellern Licht und Strom zu entziehen.
       
       Die ukrainische Seite hat beim Einsatz dieser Waffen nicht viel Spielraum,
       da die russische Armee in der elektronischen Kampfführung deutlich
       überlegen und zumindest immer noch in der Lage ist, die meisten ihrer
       wichtigsten militärischen Einrichtungen vor Drohnenangriffen zu schützen.
       
       Natürlich würden die ukrainischen Generäle Drohnen lieber nicht auf
       Tankstellen schießen, sondern direkt auf die Köpfe derer, die ukrainische
       Städte oder Soldaten in den Schützengräben beschießen. Aber sie wollen
       Misserfolge vermeiden, und greifen deshalb Ziele an, die weniger gut
       geschützt sind.
       
       In den zwei Jahren des Krieges haben die Ukrainer vom Westen nicht vor
       allem die Lieferung von Drohnen verlangt, sondern Flugzeuge und
       Langstreckenwaffen mit Trägerraketen. [2][In den USA und der EU war eines
       der Hauptargumente gegen die Lieferung dieses „tödlichen Metalls“ die Angst
       vor einer Eskalation des Konflikts – einer Verlagerung des Krieges auf
       russisches Territorium].
       
       ## Ängste vor einer Eskalation
       
       So wurde diese Ausrüstung und Munition nicht in ausreichender Menge zur
       Verfügung gestellt, und unter anderem daran scheiterte die große
       ukrainische Gegenoffensive im vergangenen Sommer. Nun kann der russische
       Eindringling erfolgreich weitere Städte und Dörfer der Ukraine angreifen
       und so auch einen neuen Flüchtlingsstrom auslösen.
       
       Die westlichen Ängste vor einer Eskalation haben genau zu einer
       großflächigen Eskalation geführt, nämlich einem Wirtschaftskrieg durch
       wechselseitigen Angriffe auf die Energieinfrastruktur und damit
       einhergehenden Umweltkatastrophen in einer ohnehin schwierigen Situation,
       was Lufttemperaturen und Brände angeht.
       
       Es zeichnet sich mittlerweile auch eine neue Art russischer Flüchtlinge ab,
       die nun ihren Wohnort nicht wegen politischer Meinungsverschiedenheiten mit
       den Behörden oder aus Angst vor einer Mobilisierung verlassen, sondern
       wegen des Kriegsgeschehens. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die
       Evakuierung von 9.000 Kindern aus der grenznahen Region Belgorod aufgrund
       des Beschusses durch ukrainische Streitkräfte vielleicht ein erstes
       Anzeichen für dieses Phänomen ist.
       
       Natürlich verteidigt die russische Seite auch zivile Objekte, insbesondere
       die Hauptstadt, vor Drohnen. Einem ausländischen Diplomaten in Moskau
       zufolge müsse man manchmal aufgrund der elektronischen Kampfführung ins 20.
       Jahrhundert zurückkehren, um pünktlich zu einem Treffen zu gelangen. Das
       heißt: einen Assistenten mit einem Stadtplan in den Händen bemühen, da die
       moderne Navigationstechnik das Auto auf Abwege führe.
       
       ## Keine primitive Rache
       
       Aber für den Schutz der Provinzen reichen die russischen Mittel nicht. Erst
       kürzlich verkündete Selenskyj in einem Interview mit der Washington Post,
       dass die Taktik des verbrannten russischen Öls richtig sei. „Wenn es keine
       Luftverteidigung zum Schutz unseres Stromnetzes gibt und die Russen dieses
       angreifen, frage ich: Warum können wir ihnen keine Antwort geben? Ihre
       Gesellschaft muss lernen, ohne Benzin, ohne Diesel, ohne Strom zu leben […]
       Das ist fair. Wenn Russland damit aufhört, werden auch wir damit aufhören.“
       
       Offensichtlich geht es hier nicht um primitive Rache und auch nicht darum,
       Putin auf diese Weise zu zwingen, die ukrainischen Kraftwerke nicht zu
       zerstören. Vielmehr handelt es sich um einen weiteren verzweifelten
       Versuch, im Lager des Feindes eine Welle der Unzufriedenheit auszulösen. Es
       gilt zu zeigen, dass der Kampfeswille der Ukraine ungebrochen ist und die
       kommenden Monate für die russische Armee in der Ukraine kein Spaziergang
       sein werden. Viele andere Möglichkeiten bleiben der Ukraine, die immer noch
       frei ist, auch nicht mehr.
       
       Aus dem Russischen von Barbara Oertel
       
       1 Apr 2024
       
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