# taz.de -- Film „The Last to Leave Are The Cranes“: Heimat ist ein Flickenteppich
       
       > In „The Last to Leave Are The Cranes“ schickt die Hamburgerin Emilie
       > Giradin eine junge Chilenin auf die Spuren ihrer Familiengeschichte nach
       > Polen.
       
 (IMG) Bild: Aus ganz unterschiedlichen Gründen unterwegs: Nati (Natalia Miranda) und Morin Gonzáles Mena als Mo
       
       Emilie Giradin hat einen Schweizer Vater, ihre Mutter kommt aus Schlesien,
       das mal deutsch war und heute größtenteils in Polen liegt. Sie ist in der
       Schweiz aufgewachsen, hat in Spanien Theaterwissenschaften studiert und
       lebt inzwischen in Hamburg. Mo und Nati wiederum, die Protagonistinnen von
       Girardins Spielfilm „The Last to Leave Are the Cranes“ sind junge
       Chileninnen. Die eine ist nach Deutschland ausgewandert, die andere reist
       nach Polen, weil ihre Vorfahren von dort kommen; sie hofft, dadurch selbst
       an die polnische Staatsangehörigkeit zu gelangen.
       
       Mehr Informationen über Herkunfts- und Aufenthaltsländer lassen sich kaum
       sinnvoll so wenigen Worten unterbringen – aber von genau solch einem
       Flickenteppich aus persönlichen Verbindungen zu Ländern und Ethnien erzählt
       Emilie Giradin in ihrem halb fiktiven, halb dokumentarischen
       [1][Roadmovie].
       
       Nati ist Chile fremd geworden und sie kommt zum ersten Mal nach Europa, um
       dort ein anderes Land zu finden, in dem sie vielleicht besser leben kann.
       Ihr Urgroßvater stammt aus Schlesien, und obwohl sie kein Wort Polnisch
       versteht, will sie Polin werden. Bei der „Schatzsuche“ nach Belegen, mit
       denen Nati hofft beweisen zu können, dass sie im Grunde aus Polen stammt,
       hilft ihre alte Freundin Mo. Die glaubt, ihre eigenen Schlachten – mit den
       deutschen Einwanderungsbehörden – schon hinter sich gebracht zu haben.
       
       Dieses Handlungsgerüst, denn mehr soll es auch gar nicht sein, nutzt
       Giradin: Anhand der zahlreichen Begegnungen, die die beiden jungen Frauen
       auf ihrer Reise machen, erzählt ihr Film davon, wie kompliziert und porös
       nationale Identitäten heute geworden sind.
       
       So zeigt sie etwa in einer langen, dokumentarischen Einstellung eine Gruppe
       von jungen Männern in Schlesien, die nachts unter einer Brücke rappen.
       [2][Hip-Hop] sei seit den 1990er-Jahren in Polen sehr populär und vor allem
       Schlesien habe für sie „Detroit Vibes“, sagt sie im Gespräch mit der taz.
       Wobei die einstige US-Autobau-Metropole, Heimat etwa des Rappers
       [3][Eminem], lange vor allem für Niedergang und vermasselten Strukturwandel
       stand.
       
       Es ist kein Zufall, sondern vielmehr bezeichnend, dass die meisten
       Gespräche im Film in Zweitsprachen gehalten werden. Nur wenn Nati und Mo
       allein miteinander reden, können sie dies in ihrer Muttersprache tun,
       Spanisch – mit allen anderen sehen wir sie auf Englisch oder Französisch
       kommunizieren. Und dabei entstehen Unschärfen, weil keine*r der
       Beteiligten diese Sprachen perfekt beherrscht.
       
       Gedreht hat Emilie Giradin ihren nur etwas über eine Stunde dauernden Film
       ohne festes Drehbuch. Stattdessen hat sie Techniken der Schauspielführung
       aus ihrer Theaterarbeit weiterentwickelt: Natalia Miranda als Nati und
       Morin Gonzáles Mena als Mo sind die einzigen professionellen
       Darstellerinnen des Films.
       
       Mit ihnen hat Giradin die Situationen eingeübt, in denen sie dann jeweils
       auf sich selbst mimende Laiendarsteller*innen treffen.So erklären
       sich auch die langen Einstellungen, bei denen die Kamera weiter weg bleibt
       als bei normalen Spielfilmen üblich: Die Situationen und Gespräche sollen
       möglichst natürlich wirken, die Lai*innen nicht irritiert werden, etwa
       durch aufdringliche Kameras oder die sonst so üblichen Wiederholungen von
       Einstellungen.
       
       Mit dieser offenen Form der Inszenierung und des Erzählens bekommt Emilie
       Giradin im Film vieles von dem untergebracht, was sie bei ihren eigenen
       Recherchen erfahren hat von Freund*innen mit anderen
       Migrationserfahrungen. So kommt auch eher eine episodenartige Struktur
       heraus, kein großer dramaturgischer Bogen. „The Last to Leave Are The
       Cranes“ wirkt tatsächlich wie eine Reise mit überraschenden Entdeckungen
       und Hindernissen und geerdet wird er durch das herzliche, freundschaftliche
       Verhältnis zwischen Nati und Mo.
       
       Einer der Gründe, warum Giradin diesen Film gemacht hat, war, dass sie von
       der deutsch-polnischen Geschichte erzählen wollte, sagt sie – und das aus
       einer „Außenperspektive“. So erfährt Nati etwa von einem polnischen
       Historiker, der dessen Geburtsurkunde gefunden hat, dass ihr Urgroßvater
       vielleicht gar kein Pole war, sondern Deutscher: Je nachdem, ob er sich in
       der Volksabstimmung im Jahr 1921 dafür entschieden hatte, Preuße zu bleiben
       oder Pole werden wollte.
       
       Dadurch, dass dies bis heute einen entscheidenden Unterschied macht – die
       deutsche Bürokratie würde Nati noch größere Schwierigkeiten bereiten –,
       bekommt diese exemplarische Geschichtslektion im Film eine besondere
       Aktualität und Dringlichkeit: Dinge, die vor über hundert Jahren in einem
       so längst nicht mehr existierenden Schlesien passierten, können noch heute
       das Leben einer jungen Frau aus Chile beeinflussen.
       
       5 Apr 2024
       
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