# taz.de -- Geschichte der Westberliner Linken: Mit beiden Augen auf der Straße
       
       > Das Schöneberg-Museum erinnert an den Fotografen und Kommunisten Jürgen
       > Henschel, dessen Bild des sterbenden Benno Ohnesorg um die Welt ging.
       
 (IMG) Bild: Ob gegen Atomkraft oder Autobahnbau – der Fotograf Jürgen Henschel dokumentierte die Linke Westberlins
       
       BERLIN taz | Der Mann auf dem Foto hat massive Schlagwunden im Gesicht. Ob
       er in eine politische Auseinandersetzung geraten ist und sich dabei die
       Verletzungen zugezogen hat? Schließlich handelt es sich bei ihm um den
       Fotografen Jürgen Henschel. Der war zum Zeitpunkt der Aufnahme, im Jahr
       1957, immerhin als aktiver Kommunist bekannt und in den Hochzeiten des
       Kalten Krieges im Westteil der Stadt sicher nicht überall beliebt.
       
       Das Foto hängt derzeit im Schöneberg Museum, das Henschel zwölf Jahre nach
       seinem Tod eine Ausstellung gewidmet hat. Sie ist auch ein Stück Erinnerung
       an die linke Geschichte der geteilten Stadt. Anders als im Rest der BRD gab
       es in Westberlin eine legale kommunistische Partei. Die trug ihre
       politische Nähe zur in der DDR regierenden Sozialistischen Einheitspartei
       sogar in ihrem Namen: „Diesmal Liste 4 SED-W“ stand auf den Plakaten zu den
       Abgeordnetenhauswahlen 1967.
       
       ## Ein Foto geht um die Welt
       
       Die SED-West blieb weit unter fünf Prozent. Wenig später ändere sie ihren
       Namen leicht ab und wurde zur SEW. Henschel bleib ihr bis zur Auflösung
       1991 als Mitglied verbunden. Auf vielen Fotos von ihm sind Aktivitäten der
       Partei und ihres Umfelds zu sehen. Etwa die Aufnahme vom Pressefest der
       Parteizeitung Die Wahrheit im Reichsbahnausbesserungswerk (RAW) Tempelhof
       1958: Auf dem Bild sieht man einige Männer in Anzug und Hut rumstehen, die
       wenig Partystimmung verbreiten.
       
       Doch die Ausstellung zeigt auch viele andere Fotos mit Szenen von
       Demonstrationen und Straßenfesten. Gleich mehrere Aufnahmen vom
       Schah-Besuch am 2. Juni 1967 in Westberlin sind zu sehen. Henschel
       dokumentiert darauf das brutale Vorgehen der Schah-Anhänger, die mit
       Holzlatten auf friedliche Gegendemonstrant*innen einprügeln.
       
       Wenige Stunden später schießt Henschel das Bild des sterbenden Benno
       Ohnesorg, der von einer Polizeikugel getroffen wurde. Das Foto erschien
       stark beschnitten zuerst in der SEW-Zeitung Wahrheit und wurde dann
       weltbekannt. Danach war Henschel bei fast allen Aktionen und Protesten
       dabei und bekam den Spitznamen „Mann mit der Leiter“. Die hatte er immer
       dabei, um besser fotografieren zu können.
       
       ## Nah dran an der Westberliner Linken
       
       Er knipste Antikriegskundgebungen ebenso wie Proteste gegen die
       Westtangente, die 1978 unter dem Motto „Stop dem Autobahnbau“ standen. Es
       ist nicht das einzige Thema in der Ausstellung, das auch heute noch aktuell
       ist: So waren Proteste gegen die Verdrängung von Mieter*innen schon in
       den 1980er Jahren in Westberlin ein drängendes Thema, das Henschel immer
       wieder auf Fotos bannte.
       
       Zu sehen sind etwa Kundgebungen und Straßenfeste, auf denen Mieter*innen
       gegen die geplante Aufhebung der Mietpreisbremse mobilisieren. An der
       Kampagne gegen den „weißen Kreis“, wie die Zonen genannt wurden, die keine
       Mietpreisbremse mehr kannten, beteiligten sich unterschiedlichste
       Strömungen der Westberliner Linken. Darunter auch die Alternative Liste
       (AL), der Westberliner Vorläufer der Grünen, der damals als oppositionelle
       Kraft im Abgeordnetenhaus agierte.
       
       Dass die von der SEW als Konkurrenz betrachtet wurde, zeigen
       SEW-Stadtteilzeitungen, die in der Ausstellung gelesen werden können. Die
       AL und ihr Umfeld wird als „Mao- und Teng-Szene“ bezeichnet, weil ehemalige
       Mitglieder maoistischer Parteien dort aktiv waren. Auch solche
       Streitigkeiten in der Linken kennt man noch heute. Eine Linke, deren
       Geschichte Jürgen Henschel über viele Jahre dokumentierte – und von der er
       heute selbst ein Teil ist.
       
       10 Apr 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Nowak
       
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