# taz.de -- Zeugnisse des alten Westberlin: Untergegangene Abschiebe-Fantasien
       
       > Eine Ausstellung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung zeigt Bilder von
       > migrantischen Protesten im Westberlin der frühen 1980er Jahre.
       
 (IMG) Bild: Bilder des Protests: Anfang der 80er Jahre drohte tausenden Jugendlichen die Abschiebung
       
       BERLIN taz | Auf den ersten Blick könnten die Transparente, die die
       Jugendlichen auf den Fotos tragen, auch von aktuellen Demonstrationen
       stammen. „Gestern Integration – heute Abschiebung“, lautet eine Parole.
       Schnell aber wird klar, dass diese Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die aktuell im
       Foyer der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Ostbahnhof zu sehen sind, aus einer
       anderen Zeit stammen, und zwar von Anfang der 80er Jahre.
       
       Die meisten der Proteste, die in der kleinen, informativen Ausstellung „Wir
       sind keine Rausländer“ dokumentiert sind, richteten sich gegen den
       „Lummer-Erlass“. Der Westberliner Innensenator und [1][CDU-Rechtsaußen
       Heinrich Lummer] wollte sich damit 1981 als Hardliner präsentieren, der
       gegen Hausbesetzer*innen, Linke und eben auch gegen „Ausländer“ vorging.
       
       Durch eine Änderung des Ausländererlasses drohte Tausenden über 18-jährigen
       Jugendlichen [2][die Abschiebung], was für große Empörung in der Stadt
       sorgte. „Ausländer und Deutsche haben gleiche Rechte“, steht auf vielen
       selbstgemalten Schildern, die auf den Bildern zu sehen sind. An vielen
       Westberliner Schulen wurde 1981 zu Protestkundgebungen aufgerufen, an denen
       Tausende migrantische Jugendliche teilnahmen.
       
       So informierte ein handgeschriebener Zettel, der in der Ausstellung gezeigt
       wird, Lehrer*innen und Mitschüler*innen einer Schöneberger Schule:
       „Heute fand in diesen Räumen eine große Versammlung von Jugendlichen statt,
       die vom Lummer-Erlass betroffen sind. Entschuldigt daher die Unordnung.“
       Diese schnelle Mobilisierung hatte Erfolg. „Lummer debütierte gleich nach
       Amtsantritt mit einem Abschiebungsplan (…), der im öffentlichen Protest
       aber unterging“, resümierte später der Spiegel.
       
       ## „Der Mann mit der Leiter“
       
       Die Fotos von den Protesten stammen von Jürgen Henschel, auf dessen
       Fotoarchiv die Historikerin und Ausstellungskuratorin Svenja Huck vor zwei
       Jahren zufällig im Friedrichshain-Kreuzberg-Museum stieß. Weil sich Huck
       mit ihrer Ausstellungsidee an die Rosa-Luxemburg-Stiftung wandte, die ihren
       Sitz in Friedrichshain hat, sind die Dokumente des frühen migrantischen
       Protests in Westberlin jetzt im ehemaligen Ostberlin zu sehen.
       
       Das wäre aber vielleicht auch im Sinne des 2012 verstorbenen Fotografen
       gewesen. Als „Mann mit der Leiter“ war Henschel damals der fotografische
       Dokumentarist zahlreicher Proteste und Demonstrationen in Westberlin. Zu
       internationaler Bekanntheit gelangte er durch sein [3][Foto des sterbenden
       Benno Ohnesorg], der am 2. Juni 1967 Opfer einer Polizeikugel wurde.
       
       Viele seiner Fotos veröffentlichte Henschel in der Wahrheit, der
       Parteizeitung der faktisch DDR-finanzierten Sozialistischen Einheitspartei
       Westberlin (SEW). Die Partei hatte sich in den 1970er Jahren linken
       Westberliner Gewerkschafter*innen und Künstler*innen geöffnet.
       Daher ist es auch kein Zufall, dass Henschel ab 1976 zahlreiche Feste von
       Gewerkschafter*innen dokumentierte, die sich für gleiche Rechte von
       Migrant*innen und deutschen Arbeiter*innen einsetzten.
       
       Diese Zeugnisse von frühen migrantischen Kämpfen sind nun in der
       Ausstellung in der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu sehen, die damit auch an den
       Chronisten der Westberliner Protestbewegung Jürgen Henschel erinnert.
       
       1 Nov 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Peter Nowak
       
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