# taz.de -- Gentrifizierung in London: Rettet den Tesco
       
       > Londoner Aktivisten kämpfen für den Erhalt einer Supermarktfiliale. Es
       > ist der letzte erschwingliche Laden im geschichtsträchtigen Soho.
       
 (IMG) Bild: Einer der kulturellen Anlaufpunkte auf der Dean Street im einst subkulturell geprägten Soho: Das Soho Theatre
       
       Die in Soho gelegene Dean Street ist auf den ersten Blick keine
       Besonderheit. Eine Straße wie viele andere im Londoner West End, wären da
       nicht die vielen Persönlichkeiten, die mit ihrer für Londoner Verhältnisse
       recht jungen Geschichte verbunden sind.
       
       Auf dieser nur 500 Meter langen Straße ist viel passiert: Mozart gab 1764
       im Alter von acht Jahren ein Konzert, Admiral Nelson logierte vor der
       Schlacht von Trafalgar in einem ihrer Häuser, Dickens versuchte sich in
       einem Theater als Schauspieler, Marx und Engels lebten hier. Künstler wie
       Fred Astaire, Francis Bacon und [1][Lucian Freud] gingen in den Nachtclubs
       und Bars der Dean Street ein und aus, und während des Zweiten Weltkriegs
       traf sich die französische Résistance um Charles de Gaulle in einem Pub.
       
       Seit Kurzem glänzt die unscheinbare Straße mit einer kuriosen Geschichte
       mehr. Sie dreht sich um eine Filiale von Tesco, der mit fast 5.000
       Standorten weltweit größten britischen Supermarktkette. Sie machte zu
       Jahresbeginn Schlagzeilen, als sie als erster Supermarkt überhaupt als
       „Asset of Community Value“ ausgewiesen wurde.
       
       Der Begriff „Asset of Community Value“, der übersetzt so viel wie „Wert für
       die Gemeinschaft“ bedeutet, geht auf ein Gesetz aus dem Jahr 2011 zurück.
       Es ermöglicht Bürgerinitiativen, Kommunen dazu zu bewegen, Orte und
       Einrichtungen vor unerwünschten Veränderungen, Abriss oder Verdrängung
       besser zu schützen und ihnen im Falle eines Verkaufs ein Vorkaufsrecht
       einzuräumen.
       
       Meistens kommt es zum Einsatz, um identitätsstiftende Gebäude,
       Kultureinrichtungen oder Grünflächen zu erhalten. Dass ein gewöhnlicher
       Supermarkt, noch dazu einer des Einzelhandelsriesen Tesco, von dem Gesetz
       profitiert, ist ein Novum. Gewöhnlich engagieren sich Bürgerinitiativen
       eher gegen Ladenketten, als sich für sie einzusetzen.
       
       ## Eine „Nation von Klonstädten“
       
       Tesco, obgleich für viele Symbol erfolgreichen britischen Unternehmertums,
       weiß davon ein Lied zu singen. Der Konzern stand immer wieder wegen seiner
       Geschäftspraktiken zum Nachteil kleinerer Wettbewerber und Lieferanten in
       der Kritik und sah sich wiederholt beim Versuch, neue Standorte zu
       eröffnen, mit Widerstand konfrontiert. Etwa in Bristol, wo Proteste gegen
       eine neue Filiale 2011 zu Ausschreitungen, dem „Tesco Riot“, führten.
       
       Die Proteste in Bristol waren bemerkenswert ob ihrer Intensität und
       Ausdruck eines bis heute fortbestehenden Argwohns gegenüber großen
       Einzelhandelskonzernen sowie den Auswirkungen ihrer Marktmacht. Bereits
       2004 warnte die New Economics Foundation in einem viel beachteten Report
       vor sich wie „Unkraut“ ausbreitenden Filialläden, die das Land in eine
       „Nation von Klonstädten“ verwandeln würden. Gleichzeitig pries der Think
       Tank Bürgerinitiativen, die sich dem „Ansturm der Klone tapfer
       widersetzen“.
       
       In Soho ist der „Klonstadt“-Effekt seit Jahrzehnten Thema.
       Investorenprojekte, Gentrifizierung und wachsende Touristenströme haben
       dazu geführt, dass das Viertel als ein Beispiel dafür gilt, wie ein
       Stadtteil schleichend seine Identität verliert. Londons legendäre
       Ausgehhochburg ist nach wie vor lebendig, hat aber über die Jahre viel von
       ihrer Atmosphäre eingebüßt.
       
       Einst flanierte die kulturelle Avantgarde durch Soho, an den Rand gedrängte
       Gruppen fanden hier ihren Platz, die Subkultur florierte. Heute dominiert
       jene Konsum-Monotonie, die auch in vielen anderen Stadtteilen weltweit
       anzutreffen ist. Wo früher inhabergeführte Geschäfte für Vielfalt sorgten,
       regiert nun die Austauschbarkeit globaler Marken und Moden.
       
       ## Die Soho Society schreitet ein
       
       Soho wäre jedoch nicht Soho, wenn es nicht auch Widerstand gegen diese
       Entwicklung gäbe. Die Soho Society, eine Initiative, die in den 1970er
       Jahren als Reaktion auf den geplanten Abriss großer Teile des Viertels
       entstand, setzt sich seit ihrer Gründung für den Erhalt inhabergeführter
       Geschäfte und kultureller Einrichtungen ein. Umso mehr mag es überraschen,
       dass sie es war, die sich dafür einsetzte, den Tesco in der Dean Street als
       Asset of Community Value auszuweisen, als dieser durch einen geplanten
       Neubau gefährdet schien.
       
       Aus Sicht der Soho Society war dies nur konsequent. Ein Supermarkt gehöre
       zu einem lebenswerten Viertel, so ihre Argumentation, und Tesco sei nun mal
       der einzige verbliebene Laden, der den rund 3.000 Bewohnern Sohos und
       seinen abertausenden Besuchern eine breite Auswahl an erschwinglichen
       Lebensmitteln biete. Karl Marx hätte eine solche Ironie sicherlich ein
       Lächeln entlockt.
       
       ## In der Lebensmittelwüste
       
       In Soho prallen zwei Welten aufeinander: die des Überflusses und die des
       Mangels. Für Luxusverwöhnte gibt es hier alles, von handgefertigten
       Schokoladentrüffeln bis hin zu Matcha-Lattes und maßgefertigten
       Lederschuhen aus nachhaltiger Produktion. Doch das Beschaffen simpler
       Grundnahrungsmittel stellt eine Herausforderung dar.
       
       Der Begriff „food desert“ („Lebensmittelwüste“), der gemeinhin verwendet
       wird, um einkommensschwache Stadtteile zu beschreiben, die nicht
       ausreichend Zugang zu frischen Lebensmitteln haben, bekommt hier eine neue
       Bedeutung. Denn Soho ist weder einkommensschwach – obwohl dank einiger
       verbliebener Sozialwohnungen immer noch Geringverdienende im Viertel leben
       – noch mangelt es an Einkaufsmöglichkeiten an sich. Was fehlt, sind
       günstige Geschäfte für den täglichen Bedarf.
       
       Das Engagement der Soho Society stellt einen interessanten Twist in Sachen
       Stadtaktivismus vor dem Hintergrund weltweit zunehmender Gentrifizierung
       und Touristifizierung dar. Anders als bei den bekannten „David gegen
       Goliath“-Kämpfen wie in Bristol steht hier der Kampf für einen etablierten
       Nahversorger im Vordergrund.
       
       Völlig neu ist das nicht. In Berlin-Kreuzberg kämpften Bürgerinitiativen
       bis vor ein paar Jahren vehement – und letztlich erfolglos – für den Erhalt
       eines Aldi-Marktes. Derlei Vorfälle werfen spannende Fragen auf: Was macht
       einen „Wert für die Gemeinschaft“ aus? Und was ist für den Erhalt
       lebenswerter und inklusiver Nachbarschaften wichtig?
       
       Diese Fragen stellen sich auch ein paar Kilometer entfernt in Stoke
       Newington. Die befürchtete – und nun wohl abgewendete – Schließung von The
       Rochester Castle hatte in den vergangenen Monaten Proteste provoziert. Der
       Pub wird von Menschen unterschiedlicher Backgrounds geschätzt, auch weil
       das Bier hier billiger ist als bei der Konkurrenz. Wüsste man es nicht
       besser, könnte man meinen, es handele sich bei The Rochester Castle um eine
       unabhängige Nachbarschaftskneipe, doch er gehört zu Wetherspoons, der
       größten Pub-Kette Großbritanniens.
       
       6 Apr 2024
       
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