# taz.de -- Roman über Swinging London: Erwachsenwerden der Rockkultur
       
       > David Mitchell schickt vier Musiker ins London der Spätsechziger. Er
       > erzählt mit historischen Bezügen von Aufbruch und Tragik in „Utopia
       > Avenue“.
       
 (IMG) Bild: Pink Floyd in Originalbesetzung mit Syd Barrett, oben links, 1967 in London
       
       Bei der Lektüre von Romanen sollen LeserInnen sich darüber im Klaren sein,
       dass „lauter Unsinn“ auf den Seiten wartet, der jedoch bereitwillig
       geglaubt werden müsse, hat [1][die US-Autorin Ursula K. Le Guin] als
       Bemerkung ihrem SciFi-Roman (und literarischen Durchbruch) „Die linke Hand
       der Dunkelheit“ vorausgeschickt. Sich aufs Geschilderte einzulassen sei das
       eine.
       
       Aber Worte sind nicht nur definierbare Zeichen, Metaphern und Symbole, „sie
       haben auch einen Klang. Ein Satz ist wie ein Akkord.“ Nach [2][der Lektüre
       von Le Guin] fasste der Brite David Mitchell einst selbst den Mut, mit
       fiktionalem Schreiben zu beginnen, er wolle die Gedanken so frei laufen
       lassen wie sein Vorbild. Mitchell hat es weit gebracht: Seine Romane sind
       zu Bestsellern geworden. Am bekanntesten ist „Der Wolkenatlas“, [3][unter
       dem Titel „Cloud Atlas“ auch verfilmt].
       
       Nun ist „Utopia Avenue“ in deutscher Übersetzung erschienen, Mitchells
       achter Roman, der im englischen Original 2020 herauskam. Mit seinen
       Vorgängern hat das Werk gemeinsam, dass Protagonisten-Namen früherer Werke
       cameo-like auftauchen und in den aktuellen Plot eingeflochten werden.
       
       ## Weitermäandernde Namen
       
       „Utopia Avenue“ dreht sich um eine gleichnamige Band, die, flankiert von
       einem kanadischen Manager, Bekanntheit erlangt und zur erst mühsamen, dann
       doch triumphalen Tour durch Großbritannien und die USA ansetzt. Gitarrist
       Jasper De Zoet trägt nicht nur denselben Nachnamen wie der Titelheld von
       [4][Mitchells „Die Tausend Herbste des Jacob De Zoet“], ein historischer
       Roman, der sich um die Abenteuer eines holländischen Kolonialbeamten im
       Ostasien des ausgehenden 18. Jahrhunderts drehte.
       
       Er ist auch ein direkter Nachkomme, der ein Familiengeheimnis in sich
       trägt. Mitchell gilt als furioser Fabulierer, aber auch als akribischer
       Rechercheur. Für „Die Tausend Herbste des Jacob de Zoet“ forschte er in
       japanischen, niederländischen und indonesischen Archiven.
       
       Anders als „Der Wolkenatlas“, in dem Mitchell sechs Lebenswege in
       verschiedenen zurückliegenden und zukünftigen Jahrhunderten kreuzte, ist
       der Handlungszeitraum in „Utopia Avenue“ übersichtlich. Er beschränkt sich
       auf wenige Monate zwischen 1968 und 1969. Diesmal ist das Fiktionale
       Einfallstor für real existierende (pop)historische Gestalten und
       Begebenheiten.
       
       ## Emanzipierte Musikjournalistin
       
       Das allmähliche Erwachsenwerden von Rockkultur am Ende des Jahrzehnts
       dringt immer wieder direkt in die Handlung von „Utopia Avenue“ ein und
       wirft sie durcheinander. So taucht eine selbstbewusste Musikjournalistin
       auf, die die Musik von Utopia Avenue anerkennend rezensiert, dabei auch
       Erfahrungen mit dem Sexismus in der Branche nicht verschweigt.
       
       Die Band Utopia Avenue trifft im Studio, im Nachtleben und bei Konzerten
       auf zahlreiche Stars: John Lennon, Brian Jones, Jimi Hendrix kommen vor.
       [5][Mit Hendrix unterhält sich De Zoet] über Gitarrentechniken, manchmal
       wirken diese Zwiegespräche allerdings etwas bemüht. Verschiedene andere
       Zeitgenoss:innen des historischen Swinging London, wie der Fotograf
       David Bailey und der Manager Andrew Loog Oldham, sind in fiktionalen
       Charakteren angelegt.
       
       Szenen aus Michelangelo Antonionis Filmklassiker „Blow Up“ werden aus einer
       anderen, und zwar der Perspektive einer Fotografin geschildert. History und
       Mystery verschränken und verstärken sich, nicht immer gelingt es Mitchell
       allerdings überzeugend, aus diesem Wirrwarr neue Kniffe zu entwickeln.
       
       ## Growing Up in Public
       
       Je mehr man über Popgeschichte und die Schicksale jener goldenen ersten
       Generation der angloamerikanischen Rockszene weiß, auch darüber, wie
       chaotisch ihr „Growing up in public“ verlief, weil es ja keine
       Präzedenzfälle gab, desto diffuser wird Mitchells Plot. Vielleicht liegt es
       daran, dass die Aufbruchstimmung, in der die Sattelzeit von Rock ’n’ Roll
       fiel, nicht wenige utopische, tragische und, ja, sogar literarische Momente
       in sich birgt.
       
       Lennon war nicht nur Popstar und Komponist, sondern er hat sich auch selbst
       literarisch versucht. Warum also ihn in „Utopia Avenue“ unbedingt auf einer
       Party auftauchen und sprechen lassen? Seiner Bedeutung hat dies nichts
       Entscheidendes hinzuzufügen und dem Geschehen im Roman?
       
       Immer dann, wenn der Autor von der realen Rockgeschichte abrückt, Songs und
       Alben seiner Band erfindet, die Einzelschicksale der Bandmitglieder
       elliptisch verfolgt und drauflosfantasiert, wie die Band ihren Kampf um
       künstlerische Freiheit ausfechtet, wie ihre Musik klingt oder wie deren
       zeitgenössische Rezeption gewesen sein könnte, obsiegt poetic justice gegen
       die verbrieften Indizien der historischen Realität Ende der Sechziger.
       
       „Utopia Avenue“ ist kein Eins-zu-eins-Abgleich mit Swinging London. Dafür
       bleiben das gesellschaftspolitische Panorama im Großbritannien jener Zeit
       und seine starren Klassengegensätze zu unscharf. Selbst die fiktiven
       Charaktere sind durchsetzt mit biografischen Mosaiksteinen von echten
       Popstars wie Syd Barrett. Fakten werden hier teilweise auch zur Last.
       
       Barretts maßloser LSD-Konsum beschleunigte einen Persönlichkeitswandel,
       diese tragische Geschichte wandelt Mitchell in „Utopia Avenue“ ab und
       betont die manisch-depressive Disposition eines Popstars. Barretts alte
       Band Pink Floyd hat in ihrem berühmten Song „Shine On You Crazy Diamond“
       das schillernde Wesen ihres psychisch angeknacksten Ex-Mitglieds schon 1974
       mythifiziert.
       
       Andererseits, die Homosexualität von Utopia-Avenue-Sängerin Elf Holloway
       wird offener geschildert, als es das Versteckspiel von US-Bluesrocksängerin
       Janis Joplin (ihrem Vorbild) in den späten 1960ern zugelassen hätte, hier
       gelingt Mitchell durch Deutlichkeit mehr Brisanz. Plagiatsvorwürfe,
       Streitigkeiten um Gagen, aber auch eine Verfolgungsjagd bei einer
       Demonstration gegen den Vietnamkrieg am Londoner Grosvenor Square blitzen
       am Handlungsfirmament des Romans auf.
       
       Manche Details im Kleinen und auch im Großen tragen durchaus zur Spannung
       bei. Natürlich will man wissen, wie’s ausgeht, und liest somit weiter.
       
       Und doch, es fehlt die Unmittelbarkeit und die Drastik, mit der etwa Hanif
       Kureishi in „The Buddha of Suburbia“ das den Sixties nachfolgende britische
       Popjahrzehnt zwischen Glam und Punk mit der Familiengeschichte eines
       migrantischen Upstarts zu einem Sog verbunden hat.
       
       Das Rauschhafte von Kureishis Stil, bei dem zu merken war, dass er all die
       Orte, über die er schrieb, gut kannte, fehlt „Utopia Avenue“. Kureishi hat
       seine Fantasie von der Realität beflügeln lassen. Mitchell hat zwar alles
       akribisch recherchiert, aber es gelingt ihm nicht immer, dieses Interieur
       mit Eigenleben zu füllen. Freiere Akkorde, wie [6][Ursula K. Le Guin
       postulierte], hätten gutgetan.
       
       16 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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