# taz.de -- Musik zu einem LeGuin-SciFi-Roman: Grenzenlosigkeit beim Komponieren
       
       > Todd Barton hat mit Ursula K. Le Guin den SciFi-Roman „Always Coming
       > Home“ vertont: „Music and Poetry of the Kesh“ wurde erneut
       > veröffentlicht.
       
 (IMG) Bild: Todd Barton und Ursula K. Le Guin, hier 1988 mit Kindern in Oregon
       
       Das war immer der Wunsch von Hippie-Musikern der 1970er Jahre: eine Musik,
       die sich nicht auf die Person des Musizierenden bezieht noch auf die Welt
       da draußen mit ihrer Politik, sondern auf eine fiktive, zuweilen utopische,
       immer aber fantastische Welt, die man nicht mehr beschreiben muss,
       erklären, sondern die schon fertig ist – von einem anderen geschrieben,
       kartografiert und zum Ausmalen und Projizieren freigegeben.
       
       Spätestens seit Marc Bolan und Steve Peregrin Took sich vor 50 Jahren auf
       der Coverrückseite des zweiten Tyrannosaurus-Rex-Albums „Unicorn“ mit einer
       Tolkien-Ausgabe präsentierten, ist diese Sehnsucht aktenkundig. Ihr
       Einzugsgebiet ist enorm. Von dem zarten globalfolkloristischen Poesiegarten
       der Incredible String Band bis zum topografischen Virtuosengewühle der
       mittleren Yes erstreckte sich dieses Begehren, nicht eine Welt zu
       erschaffen und zu definieren, sondern sich in einer bereits bestehenden
       musikalisch zu ergehen. Todd Barton hat’s geschafft.
       
       Barton ist kein sehr bekannter, aber auch nicht ganz unbeschriebener
       Komponist im Forschungsfeld zwischen neuer Musik, freiem Jazz und
       Ethnomusikologie. In den 1980er Jahren hatte er das Glück, dass die
       renommierte Autorin von Romanen, die einfach der Fantasy oder der Science
       Fiction zuzuschlagen sie sich verbeten hätte, Ursula K. Le Guin, auf die
       Idee kam, Barton, mit dem sie schon einige Radioprojekte gemeinsam
       unternommen hatte, die Musik für einen ihrer Romane entwickeln zu lassen.
       
       Vorher hatte sie schon mal ein Libretto für den ehemaligen Kevin-Ayers- und
       Mike-Oldfield-Sideman und späteren Komponisten David Bedford entworfen.
       Doch jetzt sollte es so etwas wie Field Recordings einer indigenen
       Bevölkerung der Zukunft geben, die sie zugleich auf Traditionen aufgebaut
       wissen wollte, die es tatsächlich in Oregon und Nordkalifornien gegeben
       hatte.
       
       ## Einspruch gegen Rassismus
       
       Der Begriff des Kulturrelativismus hatte nicht immer dieselbe und
       weitgehend pejorative Bedeutung, die er heute hat. Heute meint das Wort
       eine Weltanschauung, die in China die Menschenrechte und in islamischen
       Ländern die Frauenrechte aussetzen will, „weil die eine ganz andere Kultur
       haben“ oder aber weil deren Einforderung „eurozentrisch“ wäre.
       
       ls die kulturrelativistisch genannte Richtung der Ethnologie unter dem
       deutschstämmigen jüdischen Forscher und Theoretiker Franz Boas im ersten
       Viertel des 20. Jahrhunderts in den USA entstand und enorm an Einfluss
       gewann, machte sie ihre Entdeckungen im Zeichen eines ersten massiven
       Einspruchs gegen den bis dahin weitgehend unbezweifelten sogenannten
       wissenschaftlichen Rassismus. Die Behauptung von der Relativität war mit
       der Behauptung einer Vorgängigkeit des Kulturellen verbunden und einer
       Zurückweisung aller biologischen Bestimmungen.
       
       Diese Kombination konnte sich lange halten, bis zur Entstehung linker,
       antiimperialistischer Projekte zur Unterstützung „bedrohter Völker“; es
       ließ sich freilich nicht verhindern, dass auch die (radikale) Rechte im
       Laufe der letzten 30 Jahre sich das Konzept unter dem Namen
       „Ethnopluralismus“ als eine Art Neorassismus aneignen würde – nun sollte
       allerdings die vermeintlich fundamentale Differenz der Kulturen als Grund
       für strikte Segregation herhalten.
       
       Neben Margaret Mead, Ruth Benedict, Zora Neale Hurston, Gilberto Freyre
       oder Edward Sapir war Alfred Kroeber einer der wichtigsten Schüler von
       Boas, der neben Benedict wohl auch institutionell eine der prägendsten
       Figuren der US-Ethnologie/Anthropologie war; seinen Ruhm und Einfluss
       musste Kroeber zeitweilig mit seiner Frau Theodora teilen.
       
       Beide hatten über Ishi, den – wie es damals hieß – letzten Überlebenden der
       Yahi, gearbeitet, Theodora aber auch populäre Jugendbücher, die mehrfach
       verfilmt wurden, über den „Mann, der aus der Steinzeit kam“, geschrieben,
       wie es in der deutschen Ausgabe hieß. Die Kroebers hatten mehrere Kinder,
       darunter eine Tochter. Um Wolf Wondratschek zu paraphrasieren: Ein
       Anthropologe zeugt mit einer Anthropologin ein Kind, das … nun nicht direkt
       Anthropologin werden will, aber so etwas Ähnliches.
       
       ## Tragik und Komik
       
       Ursula Kroeber Le Guin ist im Januar 2018 gestorben und hat wohl eines der
       üppigsten Werke zwischen den von ihr abgelehnten Genre-Kategorien
       Science-Fiction und Fantasy hinterlassen. Viele ihrer Romane lassen sich zu
       Zyklen (Der „Hainish“-Zyklus, der „Erdsee“-Zyklus) zusammenfassen, die in
       bestimmten Welten spielen, und ohne sie auf die Summe ihrer Eltern
       reduzieren zu wollen, ist doch eine kulturrelativistische Anthropologie
       durchaus inspirierend für sie – womit sie ja nicht die Einzige ist: der
       Anreiz, sich Kulturen vorzustellen, die ganz anders sind, ist ja der
       Antrieb vieler (kolonialer) Erzählungen, nicht nur der Science-Fiction. Wie
       und dass diese unüberwindlichen Distanzen dann doch überbrückt werden
       können, ein trefflicher Stoff für Tragik und Komik.
       
       Im vorliegenden Fall geht es in dem Roman „Always Coming Home“ von 1985 um
       verschiedene fiktive (indigene) Völker, die auf einer wenn nicht
       postapokalyptisch, so doch von Klimawandel und anderen selbst
       verschuldeten Dramen ziemlich gezausten Erde im Nordwesten der USA leben;
       dort, wo Le Guin auch viele Jahre ihres Lebens verbracht hat und wo sie
       gestorben ist.
       
       Todd Barton hat die Musik zum Buch schon bei dessen Erscheinen entwickelt,
       sie war vorübergehend auf Tape mit dem Buch in einer Box erhältlich, jetzt
       gibt es eine erweiterte Vinylfassung, und das Spannende ist sicher das
       Moment der Grenze und der Grenzenlosigkeit beim Komponieren und Selektieren
       des Materials. Der Roman gibt Regeln und Potenziale des Volkes der Kesh an,
       der Komponist kann sich entweder auf Szenen im Roman beziehen, er kann aber
       auch extrapolieren.
       
       ## Kleine Gemeinschaften auf dem Land
       
       Es gibt zwei Völker in diesem meines Wissens nach nicht ins Deutsche
       übersetzten Buch, die Dayao, die materialistisch und militaristisch in
       Städten leben und hierarchisch organisiert sind, und die friedliebenden
       Kesh, die anarchistisch auf dem Land in kleinen Gemeinschaften leben und
       die übliche urbane Ablehnung der spirituell-übersinnlichen Dimension des
       Lebens absurd finden. Klare Sache, das sind Gut und Böse im Gefüge einer
       kalifornischen Hippie-Weltsicht der 1970er.
       
       Doch wird es im zweiten Teil, der geschrieben wie ein ethnografischer Text
       zu einem Teil auf den Zeugnissen einer Kesh-Frau namens „Little Bear Woman“
       (das ist englisch für Ursula) beruht, dann doch deutlicher. Das betrifft
       dann das Eingemachte musikalischer Formate: die Formen der Notation, die
       die Kesh verwenden, ihre grafisch sichtbar gemachte, fließende und relative
       Grenze zwischen Fakt und Mythos, die Rolle der Ziffern 4 und 5 und der
       Spirale in ihrer Weltsicht und ihre Idee von Zeit – reichhaltige Beigaben
       zur Vinylversion verdeutlichen dies.
       
       Solche Vorgaben lassen sich dann – neben Originalszenen und -texten des
       Buchs – gut nutzbar machen für Barton. Sich eine Musik ausdenken, nach den
       Vorgaben einiger Parameter einer anderen, fiktiven Zivilisation: Je mehr er
       sich von einer leider auch manchmal auftauchenden „tribalen“
       „Indianer“-Stimmung wegbewegt in Richtung Abstraktion – umso schöner. Die
       unwirkliche Slowness langsam vor sich hin glühender Synthesizerflächen
       kommt ganz ohne Meditations-Imperativ aus, bleibt bei sich und überlässt es
       den Hörer_innen, sich einen Reim zu machen. Gedichte in der erfundenen
       Kesh-Sprache, tribalisierende Ornamente und einige auf sehr angenehme Weise
       referenzimmune Alienismen vervollständigen ein
       spätkalifornisch-anarchistisches Kunstwerk, das nicht nur von erfundenen
       Welten spricht, sondern selbst längst wie ein archäologisches Fundstück
       wirkt.
       
       Zeugnis einer Herrschaftskritik mit Spiritualität zusammendenkenden Szene,
       deren Resilienz gegen den eigenen Anachronismus sich heute im Überleben
       durch ihre Aktualisierung etwa bei Donna Haraway und ihren Schüler_innen
       zeigt. Das erschließt sich zu einem gewissen Grade auch demjenigen, dem
       anonyme Großstädte, schon wegen der Abwesenheit der „natürlichen“
       Hierarchien jeder kleinen Gemeinschaft, immer lieber sein werden als die
       magischen Dörfer der Kesh.
       
       5 Aug 2018
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Diedrich Diederichsen
       
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