# taz.de -- Internationales Theaterfestival: Tanz der Widersprüche
       
       > Das Festival FIND an der Schaubühne in Berlin begann mit Stücken aus
       > Portugal und Italien. FabrikbesetzerInnen und Servicekräfte waren mit
       > dabei.
       
 (IMG) Bild: Die Frauen aus den Korridoren in „Pêndulo“ von Marco Martins
       
       Dem zeitgenössischen Theater wird oft vorgeworfen, zu wenig emotional, zu
       kopflastig und abstrakt zu sein und die klassischen Strategien von Furcht
       und Mitleid sträflich zu vernachlässigen. Die aktuelle Ausgabe des
       [1][Festivals Internationale Neue Dramatik (FIND)] an der Schaubühne
       beweist das Gegenteil.
       
       Hochemotional sind vor allem die Reaktionen auf „Catarina e a beleza de
       matar fascistas“ („Die Schönheit, Faschisten zu töten“), eine mittlerweile
       vier Jahre alte Produktion von Tiago Rodrigues, dem aktuellen Leiter des
       Festivals in Avignon.
       
       Rodrigues kreiert mit seinem Ensemble aus dem Teatro Nacional D. Maria II
       aus Lissabon eine Familie, deren Ritual darin besteht, jedes Jahr einen,
       wie sie es nennen, „Faschisten“, zu entführen und nach dem Essen von
       Schweinshaxen umzubringen. Begraben wird er unter Korkeichen auf dem
       Gelände. Mehr als 70 davon deuten auf eine beträchtliche Tradition hin.
       
       ## Die Vergangenheit rumort
       
       Auslöser war die Ermordung einer Landarbeiterin durch einen Offizier des
       faschistischen Salazar-Regimes. Die Freundin des Opfers, zugleich Oma und
       Mutter der Anwesenden, rächte sie mit dem ersten Mord. Das Problem ist nun,
       dass die jüngere Generation, urban aufgewachsen, teils als Veganerin
       Schweinshaxen ablehnend, teils sich vor der Realität in Musik flüchtend,
       die Traditionen hinterfragt.
       
       Ist Gewalt gegen Faschisten das rechte Mittel? Darf man Böses für etwas
       Gutes tun?, lauten die Fragen. Bizarre Widersprüche werden offenbar, etwa
       wenn einer der Söhne den entführten Politiker einer postfaschistischen
       Partei wegen dessen Vergangenheit als erfolgreicher Unternehmer gerne als
       Teilhaber seines geplanten Ferienparadieses verpflichten will – und ihm
       dafür Freiheit und Leben verspricht.
       
       Auf das Publikum wartet noch eine weitere Herausforderung. Denn der
       entführte Politiker setzt zu einer langen Rede im Duktus der Parolen der
       Neuen Rechten an. Das setzt bei denen, die vergessen, dass es sich um
       Theater handelt, einen Protestfuror frei, der in kollektiven „Buh“-Rufen
       mündet. Sogar der alte Kampfruf „No pasaran“, geprägt im Widerstand gegen
       den spanischen Faschismus, erschallt in Berlin-Charlottenburg.
       
       ## Das Publikum ist auf ihrer Seite
       
       Da ist man schnell bei der nächsten Produktion. In „Il Capitale – un libro
       che ancora non abbiamo letto“ („Das Kapital – ein Buch, das wir noch nicht
       gelesen haben“) greifen [2][Besetzer*innen einer Fabrik] in der Nähe
       von Florenz mit „Insorgiamo“ (Stehen wir auf) auf einen Slogan
       italienischer Partisanen zurück. Hier stehen die
       Betriebsbesetzer*innen selbst auf der Bühne, erzählen davon, wie sie
       vor fast drei Jahren per Mail die Nachricht von Betriebsschließung und
       Kündigung erhielten – und daraufhin das Werk besetzten.
       
       Natürlich ist das Festivalpublikum ganz auf ihrer Seite. [3][Das
       Theaterkollektiv Kepler-452 aus Bologna, das gemeinsam mit den
       Abeiter*innen das Stück entwickelt hat,] beweist zum Glück aber feinen
       Sinn für Widersprüche. Gewerkschafter Dario etwa lässt bei aller
       Heldenhaftigkeit des Kampfes auch Müdigkeit und Erschöpfung durchblicken.
       
       Mario, aus Neapel in die Toskana gekommen und dort zunächst vom
       Arbeiterparadies mit geregelten Pausenzeiten, Urlaubsanspruch, gestellter
       Dienstkleidung und Krankenversorgung begeistert, erzählt von der eigenen
       Gier: Davon, dass er selbst mit Aktien spekulierte, um schneller zum
       Eigenheim zu kommen – und damit seinen eigenen Beitrag dazu leistete, dass
       Investmentfonds wie jener, der jetzt „seine“ Firma auszuplündern versucht,
       überhaupt solch eine Macht im gegenwärtigen Kapitalismus erringen konnten.
       
       ## Die Frauen aus den Korridoren
       
       In „Pendulo“ schließlich, ebenfalls einer dokumentarischen Produktion des
       Arena-Ensembles aus Lissabon, geht es um individuelle
       Ausbeutungsgeschichten migrantischer Frauen im Dienstleistungssektor.
       Bemerkenswert ist hier, mit welcher Vitalität diese Frauen die
       Opfersituation, in die sie in vergleichbaren Theaterarrangements nicht
       selten zu rutschen drohen, hinter sich lassen. Sie schleudern ihre Wut
       durch die vierte Wand und rufen: „Wir sind nicht die Frauen aus den
       griechischen Tragödien, sondern die Frauen aus den Korridoren“ – also auf
       den Fluren von Krankenhäusern, Pflegeheimen und Büros, wo sie putzen und
       fremde Menschen pflegen, während die eigene Familie oft einen ganzen
       Kontinent weit entfernt ist.
       
       Das Pendel hier schwingt zwischen kolonialer und geschlechtsspezifischer
       Ausbeutung hin und her. Und FIND, einst als Festival für zeitgenössische
       Dramatik gegründet, erweist sich in diesem Jahr als ganz besonders famoser
       Ort für das Erzählen von Geschichten von heute.
       
       23 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] /Besetzte-Fabrik-bei-Florenz/!5904996
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Tom Mustroph
       
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