# taz.de -- US-Podcast „Classy“ über Klassismus: Was zum Teufel ist eine Gremolata?
       
       > Jonathan Menjivar macht einen Podcast über Klassenangst, der eher
       > unpolitisch sein möchte – und hat damit großen Erfolg. Wie ihm das
       > gelungen ist.
       
 (IMG) Bild: Sein Vater versteht nicht, warum er T-Shirts für 100 US-Dollar trägt: Jonathan Menjiva
       
       Ein Dach über dem Kopf haben, eine bestimmte Klamottenmarke tragen, Austern
       schlürfen – manchmal sind es konkrete Dinge, die die [1][Schwelle der
       eigenen Klasse] markieren. Für Jonathan Menjivar sind das Kaschmirsocken.
       Nur mit der Hand waschbar, besonders warm und kuschlig. Früher hätte er
       sich Kaschmir an den Füßen nicht leisten können, heute genießt er es.
       
       Doch die Socken sind auch ein Symbol seines inneren Konflikts: „Ich bin im
       falschen Team, wenn ich diese Socken trage“, erzählt [2][er in „Classy“].
       Der US-amerikanische [3][Podcast] versucht, die emotionalen Widersprüche zu
       ergründen, die Menjivar bei seinem sozialen Aufstieg begegnen. Dafür wurde
       die achtteilige Reihe vom Time Magazine und dem New Yorker zu einem der
       zehn besten Podcasts 2023 gewählt.
       
       Menjivar, ein Riesenbrille-tragender Mittvierziger mit zuversichtlichem
       Lächeln, stammt aus einer Arbeiterfamilie aus Südkalifornien. Seine Eltern
       sind aus El Salvador ausgewandert, vor ihrer Rente arbeiteten sie als
       Trucker und Fabrikarbeiterin. Obwohl Jonathan Menjivar mittlerweile in
       einem Eigenheim in New Jersey lebt und in den Medien arbeitet, fühlt er
       sich im Herzen noch immer als Teil der Arbeiterklasse. Zumindest, wenn es
       um die Frage nach gut und böse geht.
       
       Für ihn gibt es darauf eine klare Antwort, die auch in der Popkultur
       verbreitet ist: Reiche sind schlechte Menschen. Das zeigen Serien wie
       „Succession“ oder „White Lotus“ oder die finstere Erbin Cruella de Vil in
       „1001 Dalmatiner“. Menjivar fragt sich: Ist er jetzt selbst einer der
       Bösen?
       
       Vor einigen Jahren wies seine Freundin ihn darauf hin, dass sich seine Art
       zu lachen sehr verändert hatte. Jonathan Menjivar ist davon peinlich
       berührt, denn er hatte unbewusst die Lache seiner Chefin während des
       Praktikums bei einem renommierten Radiosender übernommen.
       
       ## Scham im Sternerestaurant
       
       Eine weitere Form der Klassen-Scham begegnet ihm Jahre später wieder, als
       er mit einem befreundeten Comedian feststellt: Sie können sich zwar die
       schicken Manhattaner Restaurants leisten, aber wohl fühlen sie sich dort
       trotzdem nicht. In einer Folge von „Classy“ besuchen sie ein
       Sternerestaurant und podcasten ihre Erlebnisse ins Mikrofon.
       
       Als sie den Kellner danach fragen, was ein Kampachi Crudo sei, antwortet
       dieser mit noch mehr Fremdwörtern: Der Kampachi (ein Fisch) wird im Stil
       eines Sashimi serviert, darauf kommt eine Gremolata. Was das ist, wissen
       sie nicht. Doch sie bedanken sich und entschuldigen sich sogar für ihre
       Nachfrage. Das ärgert sie, denn wofür haben sie sich entschuldigt?
       
       Diese radikale Ehrlichkeit, in der sich viele Hörer*innen wiederfinden
       dürften, macht „Classy“ zu mehr als einer Klassismus-Lehrstunde. Für seinen
       Podcast wählt Jonathan Menjivar eine ungewöhnliche Perspektive: Es geht ihm
       weder um Armutsvoyeurismus noch um Reichenbashing, sondern um die
       allgegenwärtige „class anxiety“ – Klassenangst. Demnach würden sowohl Arme
       und Ungebildete gegenüber Reichen permanent die Sorge haben, etwas Falsches
       zu sagen.
       
       Gleichzeitig würden Reiche ihren Wohlstand aus Scham verstecken. Wie eine
       Upper-East-Side-Millionärin aus der ersten Folge, die das Preisschild eines
       überteuerten Brotlaibes entfernt, damit ihre Reinigungskraft es nicht
       entdeckt. Mitleid hat man mit der Millionärin natürlich nicht. Für den
       Podcast ist dieser breite, moralisch nicht überhöhte Blick auf Klassismus
       enorm gut.
       
       In Deutschland erlebt Klassismus in den letzten Jahren eine Art
       Dauer-Renaissance. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem 19. Jahrhundert,
       seit dem Entstehen der Intersektionalitätstheorie in den 70er Jahren ist er
       ein fester Bestandteil identitätspolitischer Debatten. In den zehner Jahren
       folgten auf Didier Eribons Roman „Rückkehr nach Reims“ eine Reihe von
       Sachbüchern über Klassismus und [4][autofiktionale Klassen-Romane].
       „Classy“ nimmt sich als erster großer Podcast des Themas mit dem Blick
       durch eine lebensweltliche Popkulturbrille an.
       
       ## Keine Realpolitik
       
       Wieso Klassismus so aktuell bleibt, ist auch mit der Unfähigkeit der
       Gesellschaft zu erklären, Klassendifferenzen offen und schamfrei zu
       thematisieren. In „Classy“ werden sie die „Abgründe“ genannt, die „zwischen
       uns stehen und über die kaum jemand redet“.
       
       Ein solcher Abgrund tut sich auch zwischen Jonathan Menjivar und seinem
       Vater auf. Als der seinen Sohn an der Ostküste besucht, versteht er nicht,
       warum ein T-Shirt der Lieblingsmarke seines Sohnes 100 US-Dollar kostet.
       Der findet den Preis zwar gerechtfertigt, versteht aber wiederum nicht,
       warum sich sein Vater einen riesigen Fernseher und ein protziges Auto
       gekauft hat.
       
       Das könnte man als reine Geschmacksfrage sehen, aber darin steckt eben auch
       Klasse. Mit solchen emotionalen Momenten schafft es die Show elegant,
       Klassismus zu vermitteln.
       
       Natürlich kann man „Classy“ auch das Problem vorhalten, das viele
       Identitätspolitikkritiker*innen mit der Klassismusdebatte haben:
       Das erhöhte Bewusstsein über klassenbedingte Ausgrenzung bringt den Armen
       auch nicht mehr Geld. Doch Wissen über Ausgrenzung und Forderungen nach
       ökonomischer Gerechtigkeit müssen sich nicht im Weg stehen.
       
       Es ist konsequent, dass sich „Classy“ gar nicht erst mit Realpolitik
       aufhält. Stattdessen schafft er, was Podcasts und Literatur am besten
       können: Sie öffnen Denkräume, leisten Aufklärung, deuten Begriffe um. Der
       Name „Classy“ zielt auf Stil und Eleganz ab: schöne Kleider, schicke
       Restaurants, Benimmregeln. Der Ausspruch „Jemand hat Klasse“ beziehe sich
       auf eine weiße Oberschicht, findet Menjivar.
       
       „Ich fand es schön, es umzudrehen und zu sagen: Du kannst Klasse haben,
       egal wo du herkommst.“ Die Würde, den Luxus und die Grandeur, die wir mit
       Klasse verbinden, könne jeder für sich selbst definieren und erleben. „Um
       classy zu sein, musst du dich nicht an einer weißen Elite orientieren.“
       
       25 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Leonard Maximilian Schulz
       
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