# taz.de -- Long Covid: Ausgebremst
       
       > Diego hat Long Covid. Seine Partnerin und seine Mutter sind für ihn da.
       > Aber es ist schwer. Wie mit einer Krankheit umgehen, deren Ende niemand
       > kennt?
       
       An einem Tag im Mai 2023 spricht Diego mit seinem Vater am Telefon über den
       SSC Neapel. Der Fußballclub ist italienischer Meister, zum ersten Mal seit
       1990. Diego ist Fan, der Verein die Leidenschaft der Familie. Sein Vater
       erzählt ihm vom letzten Sieg, einem 1:0 gegen den AC Florenz. Normalerweise
       versucht Diego, kein Spiel zu verpassen. Er sitzt auf der Bettkante im Haus
       seiner Mutter in Brandenburg, vor sich ein grüner Kaminofen, rechts das
       Fenster, die Vorhänge sind zugezogen. Zum spielentscheidenden Elfmeter ist
       sein Papa noch gar nicht gekommen, als Diego das Gespräch abbricht – die
       Kräfte haben ihn verlassen. Er zieht die Schlafmaske zur Seite, reibt sich
       die Augen. Das war’s für heute.
       
       Diego, 28 Jahre alt, hat Long Covid. In Wirklichkeit heißt er anders, aber
       da er Nachteile befürchtet, wenn seine Krankheit öffentlich wird, möchte er
       sich und sein Umfeld mit Pseudonymen schützen. Gerade lebt er wieder bei
       seiner Mutter, weil er nicht für sich selbst sorgen kann. Er trägt eine
       Schlafmaske, weil schon schwaches Licht ihn blendet. Selbst die Farben auf
       seinem Handy überfordern ihn. Wenn draußen eine Krähe krächzt, zuckt er
       zusammen. Vor die Tür kann er nur mit Wattebausch im Ohr. Alles ist
       schrill, grell und vor allem: zu viel.
       
       Diego ist kein Einzelfall. Doch noch immer ist nicht klar, wie viele
       Menschen von Long Covid betroffen sind. Studien gehen davon aus, dass etwa
       6 bis 15 Prozent aller Corona-Infizierten daran erkranken. Eine absolute
       Schätzung lieferte das Institute for Health Metrics and Evaluation (IHME).
       Demnach könnten im Zeitraum von Juni 2020 bis Juni 2023 [1][bis zu 36
       Millionen Europäer:innen] zwischenzeitlich an Long Covid erkrankt
       gewesen sein.
       
       Diego leidet seit vierzehn Monaten unter der Krankheit. Seine Partnerin,
       seine Mutter und seine engsten Freunde sind für ihn da. Aber es ist nicht
       leicht. Vertraute Menschen wenden sich ab, seine Welt schrumpft. Diegos
       Geschichte ist die eines jungen Mannes, der kurz vor dem Sprung in die
       Rushhour des Lebens ausgebremst wird. Unterdessen beginnt in Deutschland
       zum ersten Mal eine Debatte über die [2][Aufarbeitung einer Pandemie], die
       für Diego nie aufgehört hat. Wie kommen er und sein Umfeld zurecht mit der
       Krankheit, deren Ende niemand kennt?
       
       Im Januar 2023 lebt Diego noch das gewöhnliche Leben eines jungen Mannes in
       Berlin. Er geht schwimmen, radelt durch die Stadt, zieht nachts durch Bars.
       Vor ein paar Monaten hat er sein Studium in Politikwissenschaften und
       Soziologie abgeschlossen und hat seinen ersten „Erwachsenenjob“ in einer
       NGO für internationale Entwicklungszusammenarbeit. Er träumt davon,
       irgendwann einmal in Asien, Afrika oder Lateinamerika zu arbeiten. Wo, ist
       ihm eigentlich egal. Hauptsache mal weg.
       
       Diego ist 1,80 Meter groß, trägt eine Brille, Schnurr- und Kinnbart und
       dichte Koteletten. Er hat Falten auf der Stirn, auch wenn er nicht spricht,
       so sieht er immer nachdenklich aus. Seine Partnerin Lina beschreibt ihn als
       aufgeweckt, gesellig und ehrgeizig, enge Freunde sagen, er sei stolz. Er
       selbst sieht sich als „Kopf-durch-die Wand-Typ“.
       
       Diegos Mutter Marga ist 63 Jahre alt und Veterinärmedizinerin. Sie lebt in
       Brandenburg und kümmert sich dort um ihren Hund, ihre Pferde und ihren
       Garten. Sein Vater Matteo ist Erzieher und lebt in Berlin. Diego und er
       treffen sich oft, um die Spiele des SSC Neapel zu schauen. „Es ist unser
       Ritual und bedeutet mir viel“, sagt Diego. Matteo kommt aus Neapel und
       nimmt Diego jedes Jahr mit in die Heimat. Dort leben seine Großeltern und
       sein Onkel, Cousins und Cousinen.
       
       Seine Partnerin Lina kennt er schon seit der Schule. Mit Anfang 20 ziehen
       beide vom Stadtrand nach Berlin. Während der Pandemie werden sie ein Paar.
       Im Februar 2023 verändert sich ihr Leben schlagartig, ohne dass sie es
       ahnen: Diego und Lina infizieren sich mit Corona. Diego lebt mit einer
       Mitbewohnerin in einer 2-Zimmer-WG. Sein Zimmer ist 12 Quadratmeter groß
       und geht zum Hinterhof raus, darin ein Bett, eine Couch, auf der er sich
       zur Hälfte ausstrecken kann, und Schreibtisch, Regal und Kleiderschrank.
       Hier quartieren Lina und er sich ein. Die meiste Zeit liegen sie auf dem
       Bett und hören Podcasts. „Dass wir es gleichzeitig hatten, fanden wir
       damals ganz praktisch“, erinnert sich Lina später bei einem Gespräch mit
       der taz im März 2024.
       
       Diegos Verlauf ist mild: Er ist nicht erkältet und hat fast keine
       Schmerzen, fühlt sich nur müde und erschöpft. Lina geht es ähnlich, sie ist
       aber weniger schlapp. Innerhalb von einer Woche sind beide wieder negativ.
       Diego bringt Lina zum S-Bahnhof. Dann, auf dem Rückweg, hat Diego einen
       Schwindelanfall. Die Katastrophe beginnt.
       
       ## Wochenlanges Tappen im Dunklen
       
       Die genauen Ursachen für die Krankheit, die Diego in diesen Wochen befällt,
       sind noch immer nicht geklärt. Ein Großteil der Forschung zu den
       Langzeitfolgen von Corona geht von vier Hypothesen aus: Viruspersistenz,
       das heißt, das Virus verbleibt nach der Infektion latent im Körper;
       Autoimmunität, demnach löst das Virus eine Immunreaktion aus, die sich
       gegen den eigenen Körper richtet; Organschäden, das heißt, die akute
       Infektion führt zu langfristigen Veränderungen im Körper bis hin zu
       Organschäden; und schließlich reaktivierte Viren, demnach werden latente
       Viren wie Herpes durch die Covidinfektion wieder aktiv.
       
       Die Hypothesen schließen sich nicht gegenseitig aus: Bei Betroffenen können
       sich medizinische Nachweise für mehrere dieser Prozesse finden. Deshalb
       versuchen Forschende, die Krankheit in unterschiedlichen Typen zu clustern.
       Je besser das gelingt, desto individueller können Betroffene behandelt
       werden. Doch noch ist es nicht so weit.
       
       So tappt auch Diego wochenlang im Dunkeln. „Der Schwindel hat mich
       verunsichert. Aber es war das erste Mal Corona, ich wusste nicht, was
       normal ist und was nicht“, erinnert er sich rückblickend in dem Gespräch
       mit der taz im März 2024. Er sucht sich eine Hausärztin, sie schreibt ihn
       krank. Er arbeitet trotzdem ein bisschen. Als ihm zwei Wochen später immer
       noch schwindelig ist, macht er ein Elektrokardiogramm (EKG). Es misst die
       elektrische Aktivität seiner Herzmuskelfasern und wirft eine Kurve des
       Herzschlags auf den Bildschirm. Ärzt:innen untersuchen anhaltenden
       Schwindel mit einem EKG, weil manchmal eine Herzrhythmusstörung die Ursache
       sein kann. Aber Diegos Herz ist gesund und sie schicken ihn nach Hause.
       
       Zwei Wochen später landet er wieder im Krankenhaus. Dieses Mal in der
       Notaufnahme. Sein Herz pocht gegen seine Brust wie ein Presslufthammer. Er
       befürchtet eine Herzmuskelentzündung. Lina begleitet Diego in die
       Notaufnahme und zwei Freunde besuchen ihn dort, bringen Schokolade und ein
       Buch mit. Sechs Stunden später ist er wieder zu Hause. Sein Herz sei
       gesund, sagen die Ärzt:innen wieder.
       
       Inzwischen ist ein Monat seit der Corona-Infektion vergangen. Diego hat
       aufgehört zu rauchen und versucht wieder zu arbeiten. Doch schon nach zwei
       Tagen bricht er ab. „Ich sollte damals für unsere Webseite einen kurzen
       Text schreiben, so einen Fünfzeiler“, erinnert er sich. „Ich habe
       stundenlang auf den Monitor gestarrt und es einfach nicht geschafft.“
       
       Er klappert weitere Ärzte ab. Beim Neurologen, ungefähr fünf Wochen nach
       der Infektion, zählt Diego wieder seine Symptome auf. Dieser Arzt spricht
       es als Erster aus: Long Covid. Aber vorsichtig und mit Bedacht, als
       Möglichkeit, nicht als Diagnose. Er möchte ihn beruhigen, erzählt ihm, dass
       sich 90 Prozent der Patient:innen innerhalb von sechs Monaten erholen.
       Für Diego ein Schock. Er kann sich nicht vorstellen, so lange krank zu
       sein.
       
       Später erzählt er Lina davon. Sie ist vor allem erleichtert, endlich eine
       Einschätzung von einer Fachperson zu haben. „Es hat mir richtig Angst
       gemacht, weil wir die ganze Zeit nicht wussten, woher der Schwindel und die
       Herzschmerzen kamen“, sagt Lina rückblickend. Marga, Diegos Mutter, fühlt
       sich in ihrer Befürchtung bestätigt. Für sie habe alles auf Long Covid
       hingedeutet. Auch wenn noch nichts sicher ist, haben sie nun etwas, an dem
       sie sich festhalten und in eigenen Recherchen abarbeiten können.
       
       Unter dem Begriff Long Covid werden alle Symptome gefasst, die Infizierte
       vier Wochen nach der akuten Corona-Erkrankung haben und für die es keine
       andere wahrscheinlichere Erklärung gibt. Sprich: Long Covid ist aus
       medizinischer Sicht erst nach vier Wochen ein Thema. Dauern die Symptome
       drei Monate an, definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das als
       Post-Covid-Zustand. Umgangssprachlich spricht man trotzdem weiterhin von
       Long Covid.
       
       ## Die erste Reise und der erste Crash
       
       Die WHO listet über 200 Symptome auf, darunter: Kurzatmigkeit und
       Brustschmerzen, Gliederschmerzen, Schlafstörungen, Gehirnnebel, Geruchs-
       und Geschmacksverlust und große Erschöpfung, auch Fatigue genannt. Auf
       Diego trifft vieles davon zu. Er leidet unter Fatigue, Reizempfindlichkeit
       und Gehirnnebel, der zu Konzentrationsschwierigkeiten und
       Wortfindungsstörungen führt. In besonders schlimmen Phasen leidet er zudem
       unter Schlafstörungen und Gliederschmerzen.
       
       Nach der Diagnose hört sich Diego um. Dem einzigen Menschen in seinem
       Bekanntenkreis, der Long Covid hatte, ging es erst nach sechs Monaten
       besser. Diego denkt: „Wenn ich mich jetzt konsequent schone, geht das bei
       mir bestimmt schneller wieder vorbei.“
       
       Anfangs geht die Strategie auf. So gut, dass er Ende April mit Matteo,
       seinem Vater, nach Neapel auf Familienbesuch fliegt. Seine Hausärztin rät
       ihm zur Reise, sagt, das werde ihm sicher gut tun. Diegos Mutter Marga ist
       skeptisch und fragt: „Glaubst du wirklich, dass das so klug ist?“ Aber
       Diego will mit, will rauskommen aus seiner geschrumpften Welt. In Neapel
       angekommen, fühlt er sich mal lebendig, mal erschöpft. „Einen Tag habe ich
       mit meinem Vater, Onkel und meinem Cousin verbracht. Wir sind manchmal acht
       bis zehn Kilometer gelaufen. Am nächsten Tag war ich fertig und auf dem
       Energielevel meiner Oma.“
       
       Nach einer Woche reisen Diego und Matteo zurück. Bis hierhin war die Reise
       gut verlaufen, doch am Flughafen von Neapel ist die Wartehalle klein und
       überfüllt. Alle plappern durcheinander. Das Licht ist grell, die Luft
       stickig. Diego findet keinen Rückzugsort, kauert sich mit Kopfhörern in
       eine Ecke und starrt die Wand an. Sein Vater kümmert sich um Check-in und
       Gepäck.
       
       Kurz vor Abflug kämpft Diego sich trotzdem durch den Duty-Free-Bereich zu
       einem Laden mit neapolitanischen Spezialitäten. Er kauft Büffelmozzarella
       für Lina und ignoriert dabei die Signale seines Körpers. „Ich konnte mir
       schon immer schwer eingestehen, krank zu sein. Meine Beziehung zu meinem
       Körper war ziemlich plump maskulin. Mein Körper hatte zu funktionieren“,
       sagt Diego im Rückblick.
       
       In Berlin angekommen, rettet er sich irgendwie vom Flugzeug ins Uber und zu
       Lina, fällt bei ihr erschöpft ins Bett. Was folgt, ist sein erster Crash.
       Ein Begriff aus der englischsprachigen Long Covid Forschung, der den
       vollumfänglichen Zusammenbruch nach einer Überforderung des Körpers
       beschreibt. Diegos Haut kribbelt, seine Beine werden schwer, seine Sicht
       wird unklar. Jeder Reiz ist zu viel. Der Kontrollverlust macht Diego Angst.
       Was er da gerade durchlebt, nennt sich in der Fachsprache
       Post-Exertionelle-Malaise (PEM). PEM tritt meist einige Stunden nach einer
       Überanstrengung auf und hält Stunden, manchmal auch Tage an. Wer die eigene
       Belastungstoleranz zu sehr überschreitet, crasht.
       
       „Es ist wie Lampenfieber vor einem großen Vortrag. Nur über Tage“, sagt
       Diego. „Und dazu ein Kater und eine Grippe.“ Auch Lina erinnert sich noch
       an den Abend: „Es war super hart, mit anzusehen, wie er so leidet, und
       gleichzeitig absolut nichts machen zu können.“ Am nächsten Tag ist Lina
       unterwegs, Diego schreibt ihr eine Nachricht:
       
       Mein Körper sendet mir momentan einfach total weirde Signale. Aber ich mach
       einfach ruhig, mehr kann ich gerade nicht machen:) 
       
       Lina antwortet: Mhmm ja, das ist echt bescheuert, aber was anderes als dich
       schonen kannst du nicht machen. Das geht bald weg, I know it:)
       
       Diego bleibt weiter bei Lina, kommt jedoch kaum aus dem Bett. Lina muss
       arbeiten und Diego sich eingestehen, dass er sich nicht um sich selbst
       kümmern kann. Er beschließt, seine Mutter zu fragen, ob er für eine Weile
       zu ihr ziehen kann. Sie wohnt in Brandenburg, dort gibt es einen Garten und
       weniger Lärm. Diego hofft, sich dort besser fallen lassen zu können.
       
       „Ich bin sofort zur Tigermama geworden“, erinnert sich Marga an das
       Telefonat mit Diego. Als sie aufgelegt haben, fährt sie direkt los und holt
       ihn ab. In Brandenburg kocht sie für ihn, macht seine Wäsche, holt seine
       Medikamente von der Apotheke ab und fährt ihn zu Arztterminen. Damit Diego
       auch wortlos kommunizieren kann, hat er sich eine Kuscheltierqualle besorgt
       – zum Wenden, eine Seite rosa, die andere Seite blau. Liegt die Qualle rosa
       auf der Bettkante, geht es ihm gut. Das heißt, man kann mit ihm reden, er
       kann sogar telefonieren. Die blaue Qualle bedeutet, es geht ihm nicht gut,
       er braucht Ruhe. „Ich habe jeden Morgen um die Ecke geschielt, um zu sehen,
       welche Farbe die Qualle hat“, erinnert sich Marga. In diesen Tagen,
       ungefähr fünf Wochen nach dem Besuch beim Neurologen, ist sie meistens
       blau. Marga ist erschüttert.
       
       An Blaue-Quallen-Tagen liegt Diego durchgehend im Bett. Selbst an
       Rosa-Quallen-Tagen geht er nur mit Ohropax vor die Tür und flüchtet in die
       Wohnung, sobald die erste Krähe kräht. Besonders an Rosa-Quallen-Tagen
       mutet er sich zu viel zu – und crasht. Wochenlang geht das so. Diego
       schreibt Lina aus Brandenburg eine Nachricht.Puh ey, gerade
       Hundespaziergang gemacht und ich bin so alle ey … Mich hat’s echt wieder
       richtig umgebummst.
       
       Lina antwortet: Ich wünschte, ich könnt irgendwie was dagegen machen.
       
       Diego übernimmt sich, weil er noch nicht realisiert, dass er vieles nicht
       mehr kann und vielleicht nie mehr können wird. „Ich konnte überhaupt nicht
       gut einschätzen, welche Situationen mich raushauen“, erinnert er sich. Und
       er ist eben dieser „Kopf-durch-die-Wand-Typ“, der im
       Steh-auf-Männchen-Modus gefangen ist: Sobald es ihm besser geht, wagt er
       wieder ein paar Schritte. Wenn ihm nicht schwindelig wird, ein paar mehr.
       „Wenn ich es die Wendeltreppe hinunter zum Esstisch schaffe“, denkt er,
       „dann vielleicht auch vor die Tür.“ Er habe das Leben mit Long Covid lernen
       müssen wie ein Kleinkind das Fahrradfahren. Auf die Fresse, Heulen, weiter.
       Schritt für Schritt lernt er so, dass er unter seiner Belastungsgrenze
       bleiben muss. Gerade dann, wenn es ihm besser zu gehen scheint.
       
       ## Belastungsprobe für die Beziehung
       
       Nach zwei Monaten bei seiner Mutter ist es so weit, er kann sich besser
       einschätzen, wieder für sich selbst sorgen. Also zieht er im Sommer 2023
       zurück in sein WG-Zimmer nach Berlin. Dort schrumpft sein Leben auf 12
       Quadratmeter Intimsphäre, getrennt von der Welt durch Fensterglas und
       Handybildschirm. Die Aussichtslosigkeit und die Ungewissheit belasten seine
       Beziehungen, auch die zu Lina. „Eben noch waren wir Ende 20, haben uns mit
       Freunden getroffen, sind ins Kino gegangen, haben uns gestritten und wieder
       vertragen, eine ganz normale Beziehung geführt“, sagt sie. „Plötzlich
       wurden wir in dieses neue Leben geworfen.“
       
       Zu Beginn der Krankheit funktionierte sie nur, erledigte stoisch
       Alltägliches wie Einkäufe und Post und übernahm das Kümmern, ohne auf sich
       selbst zu achten. Dass auch sie an ihre Grenzen stößt, sie mitunter
       überschreitet, bemerkt sie erst später und oft zeitversetzt. Irgendwann
       wird es auch für sie zu viel. Sie traut sich nicht mehr, negative Gefühle
       zu kommunizieren, weil sie Diego nicht belasten will. Sie sucht im Internet
       nach Anlaufstellen für Angehörige, findet aber keine Selbsthilfegruppen in
       ihrer Nähe.
       
       Manchmal würde Lina gerne ausbrechen aus der Enge des Zimmers, der
       Krankheit, der Beziehung. Aber sie will Diego nicht im Stich lassen. Tut
       sie es doch einmal, fühlt sie sich schlecht dabei. Die beiden streiten sich
       nun häufiger. Über Kleinigkeiten, etwa wenn Lina zu spät kommt oder Diego
       sich nicht nach Linas Wohlbefinden erkundigt. Aber eigentlich ging es um
       etwas Größeres, sagen sie heute. Um die Trauer über den Verlust von
       entspannter Zweisamkeit und die nagende Ungewissheit, ob sie jemals ihr
       altes Leben zurückbekommen.
       
       Diegos Vater Matteo hingegen führt sein gewohntes Leben weiter. Außer, dass
       er seinen Sohn jetzt weniger sieht und das Fußballritual wegfällt. Sie
       telefonieren zwar noch oft, aber treffen kann er Diego nur noch in dessen
       Wohnung und das gefällt Matteo nicht, also sehen sie sich immer seltener.
       Diego glaubt, dass seine Krankheit seinem Vater Angst macht. „Es ist
       schmerzhaft zu sehen, dass er mit der Situation nicht umgehen kann.“
       
       Gleichzeitig wird Diegos Bekanntenkreis kleiner. Nach seinem Umzug zurück
       nach Berlin merkt er, dass ihm nur noch eine Handvoll enger Freunde
       bleiben. Er trifft keine Menschen auf Geburtstags- und Familienfeiern mehr,
       lernt keine neuen Leute kennen. Bekannte erkundigen sich nach ihm, aber
       melden sich selten persönlich. Im Stich gelassen fühlt er sich von ihnen
       nicht. Alle wichtigen Menschen, außer seinem Vater, sind für ihn da. An den
       Rest stellt er keine großen Erwartungen. Als ein Freund gesammelte
       Videobotschaften von Freundesfreunden an ihn sendet, bricht Diego trotzdem
       in Tränen aus.
       
       Irgendwann beginnt er, sich selbst zu informieren, tritt Long-Covid-Gruppen
       auf Facebook bei, telefoniert mit anderen Betroffenen. Wie viele andere
       wird er zu einer Art Laienexperte, weil ihm die Ärzte nicht weiterhelfen
       können.
       
       ## Er recherchiert auf eigene Faust
       
       Nachts im Bett, wenn er nicht einschlafen kann, obwohl er sich chronisch
       erschöpft fühlt – denkt er, dass er zurück zu seiner Mutter muss, und dort
       für den Rest seines Lebens im Erdgeschoss vor sich hin vegetieren wird. In
       diesen dunklen Stunden liest er viel über das chronische
       [3][Fatigue-Syndrom (ME/CFS)], das bei fast der Hälfte der
       Long-Covid-Patient:innen auftritt und von dem Diego und sein jetziger Arzt
       glauben, dass auch er betroffen sein könnte.
       
       Die Multisystemerkrankung äußert sich in extremen, episodischen
       Erschöpfungszuständen und ist als die schwerste Form von Long Covid
       bekannt. Sie trat jedoch bereits lange vor der Pandemie auf, häufig als
       Folge von Virusinfektionen. Die Zahl der Betroffenen liegt Schätzungen
       zufolge etwa bei 0,1 bis 0,7 Prozent.
       
       Die Weltgesundheitsorganisation hat das Syndrom bereits 1969 als
       neurologische Erkrankung klassifiziert. Das ist über 50 Jahre her. Doch
       noch immer gilt die genaue Ursache als ungeklärt. Deshalb streiten sich
       Ärzte auch über die richtige Behandlung. Ein Teil von ihnen rät
       Betroffenen, sich unter ihrer individuellen Belastungsgrenze zu bewegen.
       Das Konzept nennt sich Pacing, Englisch für „das Tempo angeben“. Die
       anderen empfehlen möglichst viel Aktivität, zum Beispiel körperlich
       herausfordernde Rehas.
       
       Bis heute gibt es kein zugelassenes Medikament gegen ME/CFS – auch, weil
       die Forschung lange vernachlässigt wurde. Ein Beitrag im
       Wissenschaftsmagazin Science spricht von einer „Unterfinanzierung, die in
       keinem Verhältnis zur Langzeitbelastung der Betroffenen steht“. Betroffene
       wie Diego vermuten: „Hätte die medizinische Forschung früher mehr Zeit und
       Geld in die Erforschung von ME/CFS investiert, könnte einem großen Teil der
       Betroffenen heute besser geholfen werden.“ Nachweisen lässt sich das
       rückwirkend nicht.
       
       Die Bundesregierung kündigte jedenfalls im November 2023 an, 180 Millionen
       Euro für die Erforschung von Long Covid und die Entwicklung medikamentöser
       Therapien bereit zu stellen. Das ist jedoch schwierig, solange die
       Forschenden die Unterformen nicht anhand sogenannter Biomarker, also
       messbarer biologischer Merkmale, die auf eine bestimmte Krankheit
       hindeuten, unterscheiden können. Deshalb werden derzeit nur sogenannte
       Off-Label-Medikamente zur Behandlung von Long Covid eingesetzt. Das sind
       Medikamente, die eigentlich für die Behandlung anderer Krankheiten
       zugelassen sind.
       
       Diego hält die Symptome, das Warten und die Hilflosigkeit irgendwann nicht
       mehr aus. Auch er fängt an, sich mit Off-Label Medikamenten selbst zu
       behandeln. In Facebookgruppen, in Zeitungsartikeln, im Internet: Überall
       berichten Betroffene davon, welche Medikamente oder Behandlungen ihnen
       geholfen haben. Darunter auch Blutwäsche für mehrere Tausend Euro. Diego
       aber probiert sich erst mal durch alle möglichen Medikamente, für die er im
       Schnitt um die 150 Euro ausgibt. „Ich habe mich dabei gefühlt wie ein
       Lottospieler“, erinnert er sich später.
       
       Zuerst nimmt er Antihistaminika. Sie sollen allergische Symptome wie
       Atemnot oder Hautausschlag lindern, die sich zum Teil mit Diegos leichteren
       Symptomen überschneiden. Sie schlagen an, aber es geht ihm nicht wirklich
       besser. Dann versucht er es mit niedrig dosiertem Naltrexon (LDN). Das
       Medikament wirkt entzündungshemmend. Aber er verträgt es nicht, bekommt
       Kopfschmerzen und Durchfall und ist noch erschöpfter als vorher. Als
       Nächstes empfiehlt ihm ein Arzt Statine. Auch sie wirken
       entzündungshemmend. Das Medikament verbessert seine Symptome, doch schon
       bald entwickelt Diego Nebenwirkungen wie Muskelschwäche. Er setzt es wieder
       ab. „Es ist schwer mit anzusehen, wie er abends seine Medikamentenschachtel
       vorsortiert“, sagt Lina.
       
       ## Selbstheilung und tiefe Dankbarkeit
       
       Obwohl keines der Medikamente komplett anschlägt, fühlt er sich im
       Spätsommer besser. Diego und Lina fahren sogar eine Woche in den
       Schrebergarten von Linas Stiefvater, der direkt an der Havel liegt. Die
       Sonne scheint, alles ist grün. Diego nimmt Hummeln und Frösche wahr und
       erfreut sich daran. Er meditiert viel. Abends trinken Lina und er im Lokal
       nebenan Weinschorle.
       
       Zum ersten Mal seit Neapel fühlt er sich wieder lebendig. Das ständige
       Mit-dem-Kopf-gegen-die-Wand-Rennen, das Nicht-Akzeptieren-Wollen – in
       diesem Moment kommt es ihm weit weg vor. Er empfindet eine so tiefe
       Dankbarkeit gegenüber den Menschen, die ihm etwas bedeuten, dass er
       manchmal weinen muss. Kurz darauf findet er endlich einen Arzt, der sich
       wirklich mit [4][Long Covid] auszukennen scheint. Ein Lungenarzt, der
       selbst an Long Covid erkrankt ist, aber noch eingeschränkt arbeitet. Der
       Pneumologe spricht mit ihm auf Augenhöhe, das bedeutet Diego viel und er
       fühlt sich zum ersten Mal gut aufgehoben. Marga und Lina sind erleichtert.
       
       Und auch mit Lina geht es wieder aufwärts. Es hilft, dass es ihm besser
       geht als im Frühsommer. Vor allem aber hat sie sich verändert. Sie nimmt
       sich mehr Freiheiten, weiß früher, wann sie eine Pause braucht und
       gestattet sie sich. „Wenn ich immer nur in der Verzweiflung drin bleibe,
       hilft das auch nichts“, sagt sie. Also vereinbart sie Grenzen mit sich
       selbst und hält sie ein, zum Beispiel einen Abend für sich zu haben, oder
       zu sagen: „Heute möchte ich nicht über die Krankheit reden.“
       
       Auch Diego ist nicht mehr ganz der, der er mal war. Er sei sensibler und
       milder gegenüber sich selbst und anderen geworden, habe mehr Empathie mit
       älteren und schwächeren Menschen, sagt er im März 2024. Als ein Bekannter
       einmal meinte, dass eine Krankheit auch eine Chance sei, wurde er trotzdem
       wütend. „Eine Krankheit ist keine Chance, sondern eine fucking
       Einschränkung“, sagt Diego. „Es geht darum, einen gesunden Umgang damit zu
       finden, und das ist mir echt schwergefallen.“
       
       ## Als chronisch Kranker auf Wohnungssuche
       
       Und der nächste Kleinkrieg lauert schon im Briefkasten. Noch bekommt er
       Krankengeld, aber die Krankenkasse droht ihm damit, es vorzeitig zu
       streichen. Ihre Bedingung für eine Weiterzahlung: Er soll sofort eine Reha
       machen. Diese hatte er auf Anraten einer Ärztin im Frühsommer 2023
       beantragt. Aber weil Diego auf Facebook gelesen hat, dass es vielen anderen
       Betroffenen nach einer Reha wieder schlechter ging, und sein
       Long-Covid-Arzt sich in Diegos Fall unsicher ist, weigert er sich.
       
       Sein Streit mit der Krankenkasse findet in einem Klima statt, in dem
       erstmals öffentlich über die Aufarbeitung der Pandemie gestritten wird. Für
       Menschen wie Diego ist Corona jedoch nicht vorbei. „Ich trage immer noch
       Maske und mache immer noch Tests“, sagt er. „Ich stecke in den
       Gepflogenheiten der Pandemie noch voll drin.“ Er verstehe, dass die
       Gesellschaft erst mal Ruhe vor Corona wolle. Eine kritische Aufarbeitung im
       Sinne von: „Was haben wir da erlebt? Und was haben wir verloren?“ fände er
       trotzdem wichtig.
       
       Auch die Wohnsituation bereitet Diego Sorge. Seine Mitbewohnerin verdient
       zum ersten Mal genug, um sich die Wohnung alleine leisten zu können. Für
       Diego bedeutet das: Wohnungssuche als chronisch Kranker. Zu WG-Castings
       kann er nicht gehen, und dass sich jemand auf seine Bewerbung meldet,
       bezweifelt er. „Ich bin im Schnitt 23 Stunden zu Hause, bin lärmempfindlich
       und liege viel im Bett. Bad und Küche kann ich putzen, aber danach brauche
       ich ein paar Tage Ruhe. Wer möchte so jemanden schon bei sich in der
       Wohnung haben?“, fragt sich Diego.
       
       Nach einem Jahr Long Covid kann Diego sich nicht mehr vorstellen, wie es
       ist, komplett symptomfrei zu leben. Manchmal wacht er morgens auf und merkt
       bis auf einen leichten Tinnitus nichts weiter. Dann geht er einen Kaffee
       trinken und setzt sich für ein paar Minuten in die Sonne. Aber irgendwann
       kommen sie wieder angeschlichen, die Symptome. Er wird dann müde, setzt
       sich die Schlafmaske auf, steckt Ohropax ins Ohr und legt sich ins Bett.
       
       21 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] https://www.bmg-longcovid.de/infobox/wissenswertes-fuer-erkrankte-und-interessierte
 (DIR) [2] /Aufarbeitung-der-Pandemie-Massnahmen/!5999073
 (DIR) [3] https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9589726/
 (DIR) [4] https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/FAQ_Liste_Gesundheitliche_Langzeitfolgen.html
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Enno Schöningh
       
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