# taz.de -- Wahlen in Indien: Weltweit größte Demokratie
       
       > Knapp eine Milliarde Menschen wählt derzeit in Indien. Und doch geht
       > dieses demokratische Großereignis in den internationalen Medien nahezu
       > unter.
       
       In über 50 Staaten finden dieses Jahr Wahlen statt. Deutschland und Europa
       blicken vor allem auf [1][die EU-Wahlen im Juni] und [2][die US-Wahlen im
       November]. Die Zahlen der Wahlberechtigten erscheinen uns enorm: In den USA
       wählen ca. 160 Millionen, in der EU etwa 400 Millionen Menschen. Doch so
       gewaltig ist das gar nicht. Seit dem 19. April stimmen beinahe doppelt so
       viele Menschen über das neue Parlament und den zukünftigen Premierminister
       des bevölkerungsreichsten Landes ab.
       
       Fast eine Milliarde stimmberechtigte Inder nimmt am [3][größten
       demokratischen Wahlgang] der Menschheitsgeschichte teil. Ein historischer
       Vorgang, und einer mit Auswirkungen: Fast jeder fünfte Mensch auf diesem
       Planeten ist Inder. Dennoch schaffen es Berichte und Analysen zu den Wahlen
       und der zukünftigen Rolle Indiens in der Weltpolitik nur selten in deutsche
       Kommentarspalten, Talkshows oder auf die Agenden von Parlamentsausschüssen.
       
       Medial geht unter, was längst Realität ist: Der strategische Partner gilt
       als gigantischer Absatzmarkt und IT-Hub, als Innovationshochburg und
       unverzichtbarer Mitstreiter bei allen wichtigen globalen Themen, vom
       Umweltschutz über Lieferketten und Pharmaproduktion bis hin zum
       Hoffnungsträger gegen deutschen Fachkräftemangel. Indien wird zudem mehr
       und mehr zu einer der wichtigsten Stimmen des Globalen Südens.
       
       Aufgrund der schieren Größe des Landes, aber auch seiner wirtschaftlichen
       Kraft und Innovationsfreude wird das Land immer deutlicher hörbar im
       Konzert der internationalen Politik und der globalen Wirtschaft. In einigen
       Jahren dürfte es Deutschland überholt haben und zur drittgrößten
       Wirtschaftsmacht der Erde aufgestiegen sein – nur noch übertroffen von den
       USA und China. Wieso bleibt das Land dennoch weitgehend unterhalb des
       Radars vieler deutscher Politiker, wird unterschätzt oder sogar ignoriert?
       
       ## Ein Land der Widersprüche
       
       Die Antwort ist: Deutschland tut sich vielfach schwer mit dem neuen
       Giganten in Südasien, der indische Partner bleibt der deutschen Politik ein
       Rätsel. Warum nur weigert sich [4][Premierminister Narendra Modi] so
       hartnäckig, den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu verurteilen?
       Was bedeutet das Erstarken des Hindu-Nationalismus im Land? Ist die größte
       Demokratie der Welt gar auf dem Weg in eine Scheindemokratie?
       
       Gewiss, Indien ist sperrig. Ein Land der extremen Gegensätze, der
       Widersprüche. Es bleibt dem Westen fremd, ist zu komplex, um sich dem
       oberflächlichen Besucher zu erschließen. Alles hängt in Indien miteinander
       zusammen, alles stimmt auf den ersten Blick, aber eben auch das jeweilige
       Gegenteil. Viele Realitäten bestehen nebeneinander. Hier die Nation, die
       Raketen auf den Mond schickt und Lenkräder für fahrerlose Autos von morgen
       entwirft.
       
       Dort das Indien, das auf dem Land die Ernten wie vor hunderten Jahren mit
       Ochsenkarren einfährt. Wer Reichtum und Opulenz sucht, findet sie im
       Bollywood der Reichen und in den Rekordzahlen an Milliardären. Wer bittere
       Armut erwartet, wird in zahllosen Slums und unter den Brücken der
       Megastädte fündig. Um Indien zu verstehen, muss man zuhören, sich auf das
       Land einlassen, Geschichte, Kultur und Spiritualität kennenlernen. Die
       deutsche Politik tut gerade das oft nicht.
       
       Dabei wäre es so wichtig, sich in die Perspektive des anderen
       hineinzuversetzen, auf echter Augenhöhe und ohne Belehrungen aufzutreten
       und den moralischen Zeigefinger zu Hause zu lassen. Nicht selten erliegen
       wir einem Eurozentrismus, der nicht nur in Indien nicht gut ankommt. Der
       Westen geht stets davon aus, dass sein Blick auf die Welt der maßgebliche
       ist, seine Bewertungen von Demokratien, Rechtssystemen und Werteskalen die
       entscheidenden sind und sich der nichtwestliche Teil des Globus danach zu
       richten hat.
       
       ## Scheu vor moralischem Zeigefinger
       
       Dabei wird übersehen, dass bereits heute weniger als 20 Prozent der
       Menschen im „Westen“ leben. Und die Differenz wächst beständig, denn der
       Westen ist alt, das Bevölkerungswachstum und damit die Jugend kommt vor
       allem aus den Ländern des Globalen Südens. Epochale Errungenschaften wie
       Aufklärung, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind
       europäisches Fundament, auf das wir zu Recht stolz sind.
       
       Doch aus ebendiesem aufgeklärten Europa, so lautet der nicht nur in Indien
       zu hörende Vorwurf, gingen Rassismus und Kolonialismus hervor. Was ist mit
       den von Deutschland begonnenen beiden Weltkriegen, was mit dem Holocaust,
       mit Vietnam, dem Einmarsch in den Irak oder Libyen? Fast immer wird zu
       Indien mit negativer Konnotation berichtet: [5][Modi als
       Demokratiezerstörer], Indien vor der Übernahme durch Hindu-Extremisten,
       [6][Opposition und Menschenrechte mit Füßen getreten].
       
       Viele Inder scheuen diesen moralischen Zeigefinger und die post- oder
       neokolonialen Töne, die da mitschwingen. Ja, es gibt viel zu kritisieren:
       das zu schwache Durchgreifen der Regierung gegen fanatische
       Hindu-Extremisten; Übergriffe auf religiöse Minderheiten, insbesondere
       Muslime; schrumpfende Spielräume für die Zivilgesellschaft; Verletzung von
       Menschenrechten. Aber da ist immer auch eine andere Sichtweise.
       
       Die sieht in Indien selbstbewusste und unabhängige Gerichte, eine lebhafte
       und robuste Demokratie, aber auch integrierende und den Pluralismus
       verteidigende Stimmen aus der Regierung und dem Umfeld der regierenden
       Partei.
       
       Klar ist: Wer sich mit den Dimensionen und den vielschichtigen
       Herausforderungen einer lebendigen Demokratie von über 1,4 Milliarden
       Menschen nicht näher auseinandersetzen will, wer lieber
       Schwarz-Weiß-Schablonen bemüht, der wird weder dem politischen System noch
       dem komplexen Geflecht aus Religionen, Sprachen, Regionen und Kasten, heute
       Communities genannt, gerecht.
       
       ## Die Ukraine ist von Indien weit weg
       
       Das gilt auch für die Außenpolitik. Ein Beispiel ist der [7][russische
       Krieg gegen die Ukraine]. Der Westen tut sich schwer, zu verstehen, warum
       Indien hier nicht eindeutig Position gegen Russland einnimmt. Dabei wäre
       gerade Indien als Bannerträger von Gewalt- und Blockfreiheit ein sofortiges
       Ende von Krieg und Gewalt nur lieb.
       
       Doch der russisch-ukrainische Krieg ist weit weg, die Auswirkungen,
       insbesondere der Sanktionen, sind zwar durch Preisanstiege weltweit zu
       spüren, doch Indien sieht nicht ein, wieso es wegen eines aus seiner Sicht
       europäisch-russischen Konfliktes woanders teures Öl kaufen und dadurch die
       Finanzierung der Entwicklung des eigenen Landes gefährden soll, während
       gleichzeitig einige [8][europäische Länder mehr russisches Flüssiggas
       importieren] als vor dem Krieg.
       
       Primär, so die indische Lesart, sei dies eben ein Konflikt zwischen
       Russland und dem Westen, den die Konfliktparteien selbst zu lösen hätten.
       Das Argument, dass man solche Verletzungen von Souveränität und Völkerrecht
       nicht zulassen dürfe, um Nachahmungen zu verhindern, leuchtet gerade in
       Indien mit Blick auf China zwar sofort ein, dennoch gilt eben auch, dass
       sich der Westen seit Kolonialzeiten bis heute beim Hochhalten von
       völkerrechtlichen Prinzipien nicht eben mit Ruhm bekleckert hat.
       
       Hinzu kommt, dass sich der Westen bei der Unterstützung von indischen
       Sicherheitsinteressen in der Region stets sehr zurückhält. Wie der indische
       Außenminister Subrahmanyam Jaishankar es Anfang 2023 auf den Punkt brachte:
       „Europa muss aus dem Denkmuster herauswachsen, dass Europas Probleme die
       Probleme der Welt sind, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme
       Europas.“
       
       ## Zu allen Seiten gute Kontakte
       
       Nimmt man die historisch engen wirtschaftlichen und militärischen
       Beziehungen Indiens zu Russland sowie ein gewisses sentimentales Nähegefühl
       schon seit den Zeiten der Staatsgründung durch Mahatma Gandhi und der
       Gründung der Blockfreien-Bewegung sowie die loyale Unterstützung indischer
       Interessen durch die UdSSR und Russland im UN-Sicherheitsrat hinzu, ist der
       Dissens zur Positionierung von NATO und Westen keineswegs erstaunlich.
       
       Indiens Selbstbewusstsein ist gerade in den zehn Jahren der Regierung Modi
       stark gewachsen. Das Land pocht – zu Recht – auf Augenhöhe, auch in der
       internationalen Politik. Es gibt keine vergleichbare Nation dieser Größe,
       die mit allen Seiten „gut kann“. Selbst mit dem chinesischen Nachbarn hat
       sich Indien pragmatisch arrangiert. Indien ist ein unideologisches Land,
       das sich und seine Interessen geradezu meisterhaft durch die Welt der
       Multipolarität balanciert.
       
       Ein enormer Vorteil in einer sich derzeit extrem polarisierenden Welt.
       Beispiel [9][Nahost-Konflikt]: Die indische Regierung hat – anders als die
       Mehrheit der Staaten des Globalen Südens – die barbarischen Massaker der
       Hamas und die [10][Geiselnahmen] israelischer Bürger vom 7. Oktober 2023
       umgehend scharf kritisiert und sich auch in den UN mehrfach mit westlichen
       Staaten abgestimmt: Der Kontakt zwischen Modi und Israels Regierungschef
       Benjamin Netanjahu ist eng.
       
       Andererseits forderte die indische Regierung ziemlich bald auch die
       Rückkehr zur Zweistaatenlösung, den Zugang zu humanitärer Hilfe in Gaza und
       den Schutz der Zivilisten. Das Verhältnis zwischen Modi und den
       palästinensischen Vertretern ist ebenfalls eng. Ähnlich enge Kontakte
       pflegt die indische Regierung auch zu anderen Konfliktparteien, etwa
       Wladimir Putin und Wolodymyr Selenskyj, zu den USA – übrigens zu Joe Biden
       und zu Donald Trump – ebenso wie zum Iran.
       
       ## Theoretisch der perfekte Vermittler
       
       Heute ist Indien Mitglied in verschiedensten politischen Gruppierungen –
       etwa G20, [11][BRICS], Dauergast bei G7, QUAD –, von militärischen
       Bündnissen aber hält man sich fern. Die Tatsache, dass dieses Land nach wie
       vor am Katzentisch des UN-Sicherheitsrates Platz zu nehmen hat, ist ein
       Skandal und trägt zum Bedeutungsverlust und zur Legitimationskrise der UN
       bei.
       
       Indien also als künftiger Vermittler in politischen Großkrisen? Das Land
       würde sich sicherlich nicht aufdrängen, zumal keiner der erwähnten
       Konflikte gegenwärtig Ansätze zu Gesprächen bietet. Doch bringt Indien
       alles mit, was es braucht, um den alten Westen und den neuen Süden zu
       verbinden.
       
       26 May 2024
       
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