# taz.de -- Spionageskandal in Polen: Moskaus neue Maske
       
       > Russlands Propaganda richtet sich gegen „moralischen Verfall“, gegen
       > Demokratie und Freiheit. Kommunismus ist für das Marketing Moskaus passé.
       
 (IMG) Bild: Passé, das Klischee vom russischen Spion
       
       Als wir Kinder waren, handelten die besten Krimis von russischen Spionen.
       Verschiedene James-Bond-Filme, Verfilmungen von John-le-Carré-Romanen –
       sie alle sorgten für Unterhaltung und vermittelten gleichzeitig
       Informationen über die kollektiven Sorgen der damaligen Zeit. Nach 1991
       verschwand der russische Spion als Thema der Popkultur aus der kollektiven
       Vorstellungswelt. Nun wurde bekannt, dass der polnische [1][Richter Tomasz
       Szmydt] nach Belarus geflohen ist und dort um politisches Asyl gebeten hat.
       
       Er begründete seine Entscheidung mit „Widerstand gegen die Politik der
       polnischen Behörden“. Ihm zufolge ist Belarus ein „offenes und freundliches
       Land“. Während Szmydt durch die belarussischen Medien tourt, ist man in
       Polen konsterniert. Die polnische Regierung ist täglich damit beschäftigt,
       die Grenze zu Belarus zu verstärken – unabhängig davon, wer gerade regiert.
       Dass jemand diese Grenze in die entgegengesetzte Richtung überqueren will,
       lässt vermuten, dass wir es mit einem Spionagefall zu tun haben.
       
       Hier geht es jedoch um mehr. Erstens hat Szmydt zwischen 2015 und 2023
       Verbindungen zum Machtzentrum von Recht und Justiz nachgewiesen. Offenbar
       gab es im Justizministerium eine informelle Gruppe von Anwälten, die
       Kampagnen in den sozialen Medien organisierte, um Anwälte zu verunglimpfen,
       die Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit in Polen kritisierten. Szmydt
       war Teil dieser sogenannten Hass-Affäre.
       
       Zweitens, und das ist besonders besorgniserregend, diskutiert Polen über
       den russischen Einfluss in einem radikalen Umfeld. Die PiS wirft Donald
       Tusk seit vielen Jahren vor, russische Interessen zu vertreten. So soll er
       nach dem Wahlsieg von Barack Obama 2008 einen sogenannten Reset mit den USA
       gegenüber Russland vorangetrieben haben. [2][Tusk macht umgekehrt der PiS
       denselben Vorwurf]. Während einer Rede im polnischen Parlament bezeichnete
       er die ehemalige Regierungspartei als „bezahlte Verräter, Lakaien
       Russlands“.
       
       ## LGBT statt Kommunismus
       
       In der polnischen Debatte kursiert seit Jahren der Witz, dass die Russen es
       nicht nötig haben, Polen als Spione anzuwerben. Die tiefe politische
       Polarisierung reicht schon aus, um Polen zu schwächen, dafür braucht man
       keine Spione. Der Fall von Richter Szmydt zeigt hingegen, dass es offenbar
       doch Spione gibt und dass Parteien unter den Bedingungen politischer
       Feindseligkeit gegenüber der anderen politischen Seite bereit sind, ihre
       Politiker fast blind zu verteidigen.
       
       Auf diese Weise wird eine primitive Abhängigkeit aufgebaut: Wir schützen
       euch – ihr schützt uns. Diese Abhängigkeit ist nicht mit der Loyalität
       gegenüber dem eigenen Staat vereinbar. Auf diese Weise wird der Sinn der
       Politik entwertet. Aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts wissen wir, dass
       zynische Spione erstaunlich selten sind. In der Regel braucht es eine
       ideologische Tarnung, damit der Verrat am Land und die damit verbundene
       Entlohnung leichter zu schlucken sind.
       
       Der Fall Szmydt zeigt, welche ideologische Maske sich der russische
       Imperialismus heute aufsetzt. Es ist nicht, wie früher, der
       Kommunismus, sondern ein konservativer radikaler Nationalismus. Niemand
       wird sich heute auf Marx oder Lenin berufen. Es ist die Rede von der
       „moralischen Degeneration des Westens“, der „Zerstörung der traditionellen
       Familie“, der „[3][LGBT]-Regierung“ und so weiter.
       
       Obwohl der Fall der Flucht von Szmydt Polen betrifft, ist seine
       ideologische Dimension universell. Es ist offensichtlich, dass Moskau die
       Chance hat, Verwirrung in den Köpfen des Westens zu stiften – so, wie es
       das früher mit der Ideologie des Kommunismus getan hat –, und dass es
       sicherlich nicht untätig ist.
       
       1 Jun 2024
       
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