# taz.de -- Koloniale Gewalt in Chile: Das Gebäude und sein Salpeter
       
       > Eine Hamburger Ausstellung beleuchtet, wie „Salpeterbaron“ Henry Sloman,
       > Erbauer des Hamburger Chile-Hauses, zu Reichtum kam.
       
 (IMG) Bild: Verdunstungsbecken zur Lithiumgewinnung in Salar de Atacama, Chile. Aus: „Lithium Series I“ von Tom Hegen, 2021 (Ausschnitt)
       
       El Condor pasa – der Kondor zieht: Das Wappentier von Andenstaaten wie
       Chile symbolisiert Stärke und Freiheit; um den Profit ausländischer Firmen
       geht es nicht. Da wirkt es wie kulturelle Aneignung, dass ein Kondor die
       Fassade des vom „Salpeter-Baron“ Henry Sloman finanzierten Hamburger
       Chilehauses ziert.
       
       Der Vogel fungiert als Galionsfigur am imaginierten Schiffsbug der 1924
       geweihten Ikone expressionistischer Backsteinarchitektur. Deren quer
       gestellte Klinker formen einen feinen Rhythmus, Eisengeländer und Kacheln
       im Inneren sind klug komponiert. In Szene gesetzter kolonialer Reichtum,
       seit 2015 Teil des UNESCO-Welterbes.
       
       Architekt war [1][Fritz Höger, NSDAP-Mitglied und Antisemit]. Den Kondor
       schuf der NS-treue Bildhauer Richard Kuöhl. Auftraggeber das riesigen Baus
       war mit Sloman der damals reichste Mann Hamburgs.
       
       Möglich wurde das durch den Handel mit Salpeter, auf den die Schau „Weißes
       Wüstengold“ in Hamburgs Museum am Rothenbaum (MARKK) zum 100-Jährigen des
       Chilehauses blickt. Der weltweit größte Salpetervorrat lagerte unter der
       Atacama-Wüste, einst zu Peru, Bolivien und Chile gehörig und nach dem
       „Salpeter-Krieg“ 1884 von Chile einverleibt. Fortan vergab Chile, gegen
       hohe Exportzölle, Abbau-Konzessionen an britische und deutsche Firmen wie
       Sloman und Fölsch & Martin.
       
       ## Lebensgefährliche Knochenarbeit
       
       Sie bauten Salpeterwerke in die trockenste Wüste der Welt. Dann warb man
       Arbeiter an – verarmte Menschen aus Peru, Bolivien, Chile sowie Indigene.
       Untergebracht wurden sie in Holz- oder Wellblechhütten, bei Temperaturen
       zwischen 40 Grad plus und 20 Grad minus.
       
       Zu leisten war ein gefährlicher Knochenjob: Das Gestein wurde
       herausgesprengt, zerhackt, das Salpeter in heißen Wasserbecken durch
       Verdunstung gelöst und zum Hafen transportiert. Kinderarbeit war üblich,
       Arbeitsschutz nicht: Ohne Handschuhe und Mundschutz arbeiten die
       „Ausschaufler“ der heißen Blechwannen auf den Fotos im MARKK. Und dass
       Arbeiter oft von den Stegen in die heißen Becken fielen, zeigen die Fotos
       gar nicht. Das weiß man aus Notizen europäischer Angestellter.
       
       Hier liegt die Crux der Aufarbeitung: Die Fotos aus dem Sloman-Nachlass
       sind einerseits die einzigen Abbildungen der Salpeter-Arbeiter.
       Andererseits entstanden die Bilder zu Werbezwecken, aus Unternehmersicht.
       Da stehen die Arbeiter brav aufgereiht wie „gezähmte Wilde“ an
       Arbeitsgeräten, als sei dies ihre Berufung: für Europa fleißig sein.
       
       Profitiert haben, neben dem chilenischen Staat, die ausländischen Firmen.
       Die Arbeiterschaft wurde in fabrikeigenem Kunstgeld entlohnt, mit dem man
       nur in teuren Werksläden zahlen konnte. So floss auch dieses Geld an die
       Firmen zurück.
       
       ## Einschüchterung und Massaker
       
       1907 reichte es den Arbeitern. Zu Tausenden belagerten sie die nördliche
       Hafenstadt Iquique, wollten mehr Lohn und Arbeitsschutz. Gewalttätig wurden
       sie nicht. Es folgte das bis heute traumatische Massaker von Iquique, bei
       dem Chiles Militär 150 bis 3.000 Streikende erschoss; genau erfuhr man es
       nie. Slomans Leute im Süden waren nicht dabei, aber die Einschüchterung
       wirkte.
       
       Vergrößert wird der Zynismus durch das Material selbst, war Salpeter nicht
       nur als Dünger nötig, um die wachsende Bevölkerung Europas zu ernähren.
       Auch für Schießpulver brauchte man den Rohstoff, also für Europas Kriege,
       Sprengungen beim Salpeter-Abbau – und für das Massaker von Iquique.
       
       Das Ende des Booms kam, als Fritz Högers expressionistisches Chilehaus in
       Hamburg gerade fertiggestellt war, in den 1920er Jahren mit der Entwicklung
       künstlichen, weit billigeren Salpeters in Europa. Die Arbeiter zogen weg,
       in der Atacama blieben Industrie-Skelette und Hüttenreste. Wobei einige von
       ihnen – etwa Chacabuco – in den 1970ern unter Diktator Pinochet zum
       Folterort für politische Gegner wurden. In einem MARKK-Video berichten zwei
       Überlebende. Andere fand man nie. Bis heute suchen Verwandte nach ihnen,
       stellen Kreuze in die Wüste.
       
       Deren europäische Profiteure übrigens nicht nur Salpeter mitnahmen: Auch
       prähistorische Pfeilspitzen und präkolumbische Gefäße der seit 11.000
       Jahren besiedelten Region zeigt das MARKK. [2][Gesammelt und ins Museum
       gegeben] wurden sie von europäischen Angestellten. Über Restitution sei man
       im Gespräch, sagt Kuratorin Christine Chávez.
       
       [3][Der Extraktivismus in der Atacama indes dauert an.] Denn in Chile,
       Bolivien und Argentinien wird seit 20 Jahren unter hohem
       Grundwasserverbrauch Lithium abgebaut. So trocknen die wenigen Lagunen der
       Wüste weiter aus; ein ökologisches Desaster. Dabei symbolisiert Lithium,
       nötig etwa für E-Auto-Batterien, doch Europas Verkehrswende. Das MARKK
       zeigt Tom Hegens Fotografien von riesigen Verdunstungsbecken, im chemischen
       Gelb, Grün oder Blau leuchten sie in der ausgezehrten Landschaft der
       Atacama.
       
       5 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Petra Schellen
       
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