# taz.de -- Neuwahlen in Großbritannien: Ein überfälliger Neuanfang
       
       > Noch vor der Sommerpause wählt Großbritannien ein neues Parlament. Die
       > politischen Weichen neu zu stellen ist gut für das Land.
       
 (IMG) Bild: Rishi Sunak hat aufgeräumt. Die Früchte seiner Arbeit werden andere ernten
       
       Endlich. Großbritanniens Premierminister Rishi Sunak hat Neuwahlen noch vor
       der Sommerpause auf den Weg gebracht und damit die politischen Weichen neu
       gestellt. Dass er die Wahlen verlieren wird und die Konservativen nach
       vierzehn Jahren an der Macht zurück auf die Oppositionsbänke wandern, gilt
       als sicher, nicht zuletzt in den Reihen der Konservativen selbst. Seit dem
       Sturz von Boris Johnson vor zwei Jahren dümpeln die Tories in den Umfragen
       hoffnungslos abgeschlagen hinter Labour, ihre Moral liegt am Boden und
       viele ihrer bekannten Gesichter schauen sich bereits nach neuen Karrieren
       jenseits der Politik um.
       
       Es ist nur logisch, dieses Trauerspiel nicht weiter in die Länge zu ziehen,
       sondern es pünktlich zu den Sommerferien zu beenden. Sunak mag zwar so tun,
       als kämpfe er für den Wahlsieg, pflichtbewusst bis zuletzt. Aber die kleine
       Sekunde nach Abschluss [1][seiner verregneten Wahlankündigungsansprache]
       vor 10 Downing Street, als er mit seinem Manuskript durch war und kurz mit
       einem intensiven, wehmütigen Abschiedsblick in die Kameras schaute, sprach
       Bände.
       
       Sunak folgt der alten Londoner Spekulantenweisheit „Sell in May and go
       away“ – der weitsichtige Geschäftsmann macht von Herbst bis Frühjahr
       profitable Geschäfte und holt sich dann im Mai den Ertrag, um damit den
       Sommer zu genießen. Der Ertrag in diesem Fall für die Tories ist das
       Abwerfen einer zunehmend ungemütlichen Last, nämlich des Regierens eines
       Landes, das sie nicht mehr sehen kann.
       
       ## Umwälzung wie 1945 scheint möglich
       
       Der Wahltermin 4. Juli und die [2][Aussicht auf einen Labour-Erdrutschsieg]
       erinnert unweigerlich an Großbritanniens letzte Juli-Wahl – am 5. Juli
       1945, als noch vor dem endgültigen Ende des Zweiten Weltkrieges (gegen
       Japan wurde noch gekämpft) der konservative Weltkriegspremier Winston
       Churchill von den Wählern in die Wüste geschickt wurde. Seine
       Labour-Koalitionspartner kamen an die Macht mit dem Versprechen, nach dem
       Sieg gegen Hitler nun in die Zukunft zu blicken und ein neues, gerechteres
       Land aufzubauen. Damals rutschten die Konservativen von 48 auf 36 Prozent
       der Stimmen ab und von 386 auf 189 Sitze im 650 Abgeordnete zählenden
       Unterhaus, Labour stieg von 38 auf 48 Prozent und von 239 auf 393 Sitze
       hoch.
       
       Die Umfragen 2024 lassen heute eine mindestens genauso große Umwälzung als
       möglich erscheinen. Sunak nahm den Anklang an 1945 gleich zu Beginn seiner
       Wahlankündigung auf, mit dem Satz „In den vergangenen fünf Jahren hat sich
       unser Land durch die größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg
       gekämpft“. Und „ich war nie stolzer, Brite zu sein“, fügte er im
       Zusammenhang mit der Bewältigung der Pandemie hinzu, bei der er als
       Finanzminister eine entscheidende Rolle spielte.
       
       Hier sprach der Migrantensohn indischer Abstammung, der erste nichtweiße
       Regierungschef der britischen Geschichte. Und ein gewisser Ingrimm war
       Rishi Sunak in den letzten Monaten häufig anzusehen, als die Kritik an ihm
       immer heftiger und grundsätzlicher wurde und seine Beliebtheitsraten immer
       weiter in den Keller rutschten, obwohl er es gewesen ist, der nach dem
       Chaos von Boris Johnson und Liz Truss aufgeräumt hat: Der Inder hat seine
       Schuldigkeit getan, der Inder kann gehen.
       
       ## Dienst an der Demokratie
       
       Der scheidende Premierminister sieht sich als der Kärrner, der den Karren
       aus dem Dreck geholt hat – ein Karren, der nicht nur aus Eigenverschulden
       im Dreck liegt – entgegen den Vorwürfen der Opposition, entgegen der
       Wahrnehmung in Teilen der europäischen Öffentlichkeit. Die Misere ist auch
       [3][nicht nur auf den Brexit] zurückzuführen, sondern umfasst eben auch die
       Herausforderungen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges. Die gröbsten
       ökonomischen Krisensymptome scheinen überwunden.
       
       Ab Juli dürfte also ein Labour-Premierminister namens Keir Starmer die
       Früchte von Rishi Sunaks Aufräumarbeit ernten können. Ähnlich wie Labour
       nach 1945 auf der Grundlage von Churchills Sieg im Krieg den Aufbau eines
       Wohlfahrtsstaates für Friedenszeiten angehen konnte, will die Partei 2024
       auf der Grundlage von Sunaks Aufräumarbeit den Reformstau in Großbritannien
       angehen, der sich im Leben der Menschen immer dringlicher bemerkbar macht.
       
       Insofern sind die vorgezogenen Neuwahlen am 4. Juli ein Dienst an der
       britischen Demokratie. Die Labour-Wahlsieger werden im Sommer Zeit haben,
       sich zu sortieren, bevor es im Herbst ernst wird. Die Tory-Wahlverlierer
       können befreit in den Urlaub fahren. Allen voran Rishi Sunak selbst, dem
       hartnäckig Umzugspläne mit seiner Familie nach Kalifornien nachgesagt
       werden, um dort in der globalen Tech-Branche eine zweite Karriere
       anzugehen.
       
       Labour will regieren. Die Tories wollen nicht mehr regieren. Jetzt darf die
       britische Wählerschaft daraus die Konsequenzen ziehen. Gut so.
       
       23 May 2024
       
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