# taz.de -- Neuwahlen in Großbritannien: Sunak geht voll auf Risiko
       
       > Der britische Premierminister Rishi Sunak kündigt trotz großen Rückstands
       > in den Umfragen überraschend Unterhauswahlen für den 4. Juli an.
       
 (IMG) Bild: Will kämpfen: Rishi Sunak
       
       LONDON taz | Die Überraschung war groß, als Premierminister Rishi Sunak am
       Mittwochabend verkündete, es werde in sechs Wochen Parlamentswahlen geben.
       Die [1][haushohe Niederlage seiner regierenden Konservativen bei
       Kommunalwahlen in England] liegt noch nicht einmal einen Monat zurück, da
       droht ihnen der komplette Machtverlust noch vor den Sommerferien.
       
       Gerüchte in den sozialen Medien waren am Mittwoch die ersten Anzeichen
       gewesen, dass es kein gewöhnlicher Tag sein werde. Sogar Außenminister
       David Cameron wurde von einem Besuch in Albanien zurückgerufen, um am
       Nachmittag einer außerordentlichen Kabinettssitzung beizuwohnen.
       
       Kurz nach 17 Uhr Ortszeit trat Sunak dann vor die Tür seines Amtssitzes 10
       Downing Street und sprach mitten im Regen über seine Errungenschaften in
       den letzten vier Jahren. Er habe mit seinem Kurzarbeitsprogramm in der
       Pandemie Millionen Arbeitsplätze erhalten. Nach Covid sei [2][Putins
       Einmarsch in die Ukraine] gekommen und damit steigende Energiekosten.
       Sunaks Aufgabe sei die Wiederherstellung wirtschaftlicher Stabilität
       gewesen, und das habe er geschafft.
       
       Da tropften schon immer mehr Regentropfen an Sunaks Anzug herunter. Am
       Morgen hatte Finanzminister Jeremy Hunt erklärt, dass die britische
       Inflationsrate auf nur noch 2,3 Prozent gesunken sei. „Unsere Wirtschaft
       wächst nun schneller als prophezeit und hat Deutschland, Frankreich und die
       USA überholt“, sagte Sunak. Nun müssten sich die Brit:innen fragen, wem
       sie Glauben schenken wollten: ihm oder der Labour-Opposition, die keinen
       Plan für das Land habe? Deshalb habe er König Charles gebeten, das
       Parlament aufzulösen und eine Wahl am 4. Juli zu gewähren.
       
       ## Sunak gegen Starmer: Gigantischer Rückstand
       
       Sunak erklärte, diese Wahl finde in einer Weltlage statt, die so gefährlich
       sei wie keine seit dem Ende des Kalten Krieges. Er nannte Putins Russland,
       China und die Zuwanderung, die von feindlich gesinnten Staaten zur Waffe
       gemacht worden sei. Er sei stolz darauf, die Inflation gesenkt, Steuern
       gesenkt und die Renten erhöht zu haben.
       
       Neben dem Wachstumspotenzial des Brexit zählte er Investitionen in das
       Gesundheitssystem, Fortschritte bei der Lesefähigkeit von Grundschulkindern
       und die angekündigte Steigerung der Verteidigungsausgaben auf 2,5 Prozent
       des Bruttoinlandsprodukts als Errungenschaften seiner Amtszeit auf,
       außerdem Investitionen in lokale Verkehrsverbindungen sowie das Stoppen der
       Ankunft von Boat People durch das [3][Partnerschaftsabkommen mit Ruanda].
       
       Die Labour-Opposition habe im Unterschied zu ihm keinen Plan; ihm, Sunak,
       könne man vertrauen. Es war eine Wahlkampfrede, die allerdings vom Regen
       sowie vom lauten Abspielen eines Tony-Blair-Wahlkampfliedes von 1997 durch
       Protestierende 50 Meter entfernt überschattet wurde.
       
       Dass er der fünfte Tory-Premier seit 2010 und der dritte seit 2019 ist,
       erwähnte Sunak nicht. Er geht nur mit seinem Namen in diese Wahl. Es ist
       [4][Sunak gegen Starmer], und damit heißt es, einen gigantischen Rückstand
       in den Umfragen bis zum Wahltag aufzuholen. Als Sunak mit seiner Rede
       fertig war, war sein Anzug vollkommen durchnässt. Vom Regen in die Traufe,
       doch hofft Sunak offenbar auf eitel Sonnenschein.
       
       ## Sunak steht als Konservativer unter besonderem Druck
       
       Nahezu alle Beobachter hatten geglaubt, dass Sunak mit den Neuwahlen – sie
       müssen spätestens im Januar 2025 stattfinden – bis Oktober oder November
       warten werde. Bis dahin könnte sich die Aufhellung der Wirtschaftslage
       stärker in den Geldbeuteln vieler Brit:innen bemerkbar machen. Außerdem
       bestand die Hoffnung, bei Keir Starmer bis dahin mehr Schwachpunkte
       bloßzustellen.
       
       Im Durchschnitt der Umfragen liegen die Konservativen derzeit bei 20 bis 25
       Prozent der Stimmen, Labour bei 40 bis 45 Prozent. Das riesige Minus
       verfolgt Rishi Sunak, seit er im Oktober 2022 die [5][Nachfolge von Liz
       Truss] antrat.
       
       Anders als Truss ist Sunak als vorsichtiger und kalkulierender Politiker
       bekannt. Hinter der unerwartet frühen Wahlankündigung stecken auch lauernde
       Gefahren für seine Regierung. Sunak steht als konservativer Politiker unter
       immensen Druck, die Steuerlast zu senken, die nach der Pandemie auf ein
       Rekordhoch gestiegen ist, vor allem durch die „kalte Progression“ bei der
       Einkommensteuer. Für den Herbst waren Senkungen etwa bei den
       Sozialversicherungsbeiträgen angedacht. Doch für solchen Zauber im Herbst
       fehlt Sunak jetzt offenbar der Spielraum.
       
       Ein markantes Ereignis dieser Woche war nämlich der Endbericht des
       Untersuchungsausschusses zu einem Blutskandal, wie er vor Jahren auch in
       Deutschland Wogen machte. Der Bericht stellte im staatlichen
       Gesundheitsdienst Versagen auf allen Ebenen und aller Verantwortlicher
       fest. 30.000 Menschen wurden mit HIV- und Hepatitis-C-verseuchten
       medizinischen Blutprodukten behandelt und infiziert, 3.000 davon leben
       bereits nicht mehr. Sunak verpflichtete sich am Dienstag zu einem
       Entschädigungspaket für Geschädigte von umgerechnet 11,75 Milliarden Euro.
       
       ## Auch Labour würde hohe Bürden übernehmen
       
       Obendrauf kommen hohe staatliche Entschädigungszahlungen an ehemalige
       Filialleiter:innen britischer Postämter, die fälschlicherweise wegen
       Betrugs verfolgt worden waren, weil die ihnen zugewiesene Software
       fehlerhaft war, was die Verantwortlichen aber geleugnet hatten. Manche
       Opfer nahmen sich das Leben, andere klagen seit Jahren.
       
       Auch Labour wird im Falle eines Wahlsieges diese Bürden zu spüren bekommen
       und damit umgehen müssen. Die Ankündigung einer Erhöhung des britischen
       Verteidigungsbudgets auf 2,5 Prozent des BIP vor wenigen Wochen ist die
       dritte Bremse für jegliche weitere Ambition auf Steuersenkungen. Somit sind
       die Zeiten finanzpolitisch jetzt so gut, wie sie sein können. Wozu also mit
       Wahlen noch warten?
       
       Womöglich dachte Sunak auch daran, der rechtspopulistischen Partei Reform
       UK nicht bis zum Herbst Zeit zu geben, sich weiter auf Kosten der Tories
       auszubreiten. Ihr Mitgründer, der immer noch populäre Brexit-Politiker
       [6][Nigel Farage], schloss am Donnerstag zwar eine Kandidatur zu den
       Parlamentswahlen aus, will aber Reform UK im Wahlkampf unterstützen.
       
       Die neue Kraft will landesweit antreten und könnte den Konservativen
       wertvolle Stimmen nehmen. Dieses Risiko wäre wohl im Herbst noch höher,
       wenn zuvor in den Sommermonaten wieder wie in den letzten Jahren
       Zehntausende Asylsuchende per Boot über den Ärmelkanal kommen und Sunaks
       Ruanda-Partnerschaft doch nicht so funktioniert wie gedacht. Vor dem
       Wahltermin wird es, wie die Regierung am Donnerstag bestätigte, keine
       Deportationsflüge nach Ruanda geben.
       
       ## Sunak hofft auf einen Überraschungssieg
       
       Selbstverständlich sind Wahlen im Sommer auch mit einem Wohlfühlfaktor zu
       verbinden. Vielleicht gibt es etwas Wahlkampfhilfe durch das englische
       Fußballteam, das dann hoffentlich noch nicht aus der Fußball-EM in
       Deutschland ausgeschieden ist – der Wahltag 4. Juli fällt einen Tag vor
       Beginn der Viertelfinalspiele.
       
       Und ganz hat Sunak die Hoffnung auf einen Überraschungssieg nicht
       aufgegeben. 2017 hatte die damalige Premierministerin Theresa May
       überraschend Wahlen mit einem soliden 20-Prozent-Vorsprung ausgerufen. Am
       Wahltag blieben [7][gerade mal 2 Prozentpunkte Vorsprung] zum damaligen
       Labour-Chef Jeremy Corbyn übrig und May verlor die absolute Mehrheit im
       Parlament. Sunak hofft, dass Starmers Vorsprung in der Hitze des Wahlkampfs
       genauso dahinschmelzen könnte.
       
       Ob am Morgen des 5. Juli rote Erdbeeren oder Blaubeeren auf dem Tisch
       stehen werden, wird sich also noch zeigen. Traditionell sind es während der
       Wimbledon-Tennissaison, dieses Jahr zwischen dem 1. und 14. Juli, rote
       Erdbeeren. Mit Sahne.
       
       23 May 2024
       
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