# taz.de -- Wahlen in Großbritannien: Nigel Farage ist wieder da
       
       > Der britische Brexit-Politiker Farage kandidiert jetzt doch für das
       > Parlament. Seine Partei Reform UK will die Krise der Tories nutzen.
       
 (IMG) Bild: Großbritanniens regierende Konservative hätten die Wähler verraten, verkündet Nigel Farage
       
       CLACTON taz | An der Seebrücke von Clacton gab es am Dienstagmittag
       ungewöhnlich viel Andrang. Die südostenglische Kleinstadt hat einen neuen
       Einwohner: Nigel Farage. Der bekannteste Rechtspopulist Großbritanniens
       kündigte am Montag überraschend seine Kandidatur für die Parlamentswahlen
       am 4. Juli an, sowie die Übernahme der Führung der von ihm gegründeten
       Partei Reform UK, Nachfolgeorganisation der Brexit Party und davor der
       United Kingdom Independence Party (Ukip), deren Stärke Großbritannien in
       den Brexit gedrängt hatte.
       
       In Clacton will Farage nun erreichen, was ihm siebenmal bisher nicht
       gelang: der Einzug ins britische Unterhaus. Als der konservative
       Premierminister Rishi Sunak vor knapp zwei Wochen Neuwahlen für den 4. Juli
       ausrief, hatte Farage eine Parlamentskandidatur noch ausgeschlossen und
       wollte stattdessen Donald Trump in den USA helfen. Jetzt erklärte der
       60-Jährige seine plötzliche Kandidatur zum „Notfall“ angesichts des
       Versagens der anderen Parteien in Sachen Einwanderung und sprach auch von
       Schuldgefühlen gegenüber jenen, die ihm lange zur Seite standen.
       
       „Ich werde aufstehen und für euch kämpfen“, rief er im dunkelblauen Anzug
       mit lila Krawatte vor Hunderten Versammelten vor einem
       Fish-and-Chips-Imbiss. Die Konservativen hätten die Wähler verraten: „Sie
       haben die Grenzen zur Masseneinwanderung so weit aufgemacht, wie wir es
       noch nie zuvor erlebt haben. Dafür müssen sie einen hohen Preis zahlen!“
       
       2022 lag das britische Zuwanderungssaldo bei 745.000 Menschen, mehr als je
       zuvor, 2023 immer noch bei 672.000. Einst hatte der konservative
       Premierminister David Cameron versprochen, die Zahl auf „Zehntausende“ zu
       senken. Dass er daran scheiterte, hatte er auf die Freizügigkeit innerhalb
       der EU zurückgeführt und 2016 war es ein Hauptgrund für das Votum der
       Briten für den Brexit. Nun kommen trotz Brexit noch mehr Menschen, und
       Farage will ein Nullsaldo – es sollten ruhig viele Menschen einwandern,
       aber nicht mehr als auswandern.
       
       ## Der langweiligste Wahlkampf aller Zeiten?
       
       [1][Die Tories stünden vor dem Kollaps], so Farage. Sie und Labour seien
       sich ähnlich und lieferten den langweiligsten Wahlkampf aller Zeiten ab. Wo
       nichts mehr funktioniere, könnte einzig Dreistigkeit etwas verändern.
       Reform UK könnte sogar die Tories schlagen.
       
       Christopher und Simon sind begeistert. Auf der Terrasse des
       Wetherspoon-Pubs gegenüber der Seebrücke erklären der 47-jährige Musiker
       und der 42-jährige Einzelhandelskaufmann, sie seien zufrieden. „Farage hat
       einen guten Ruf, Dinge offen auszusprechen und die Politik aufzumischen“,
       lobt Simon, während Christopher Farage als „Revolutionär“ lobt.
       
       In Clacton hat Farage schon einmal Geschichte geschrieben. Dort bekam 2014
       Farages damalige Partei Ukip ihren ersten Unterhaussitz, als der
       konservative Abgeordnete Douglas Carswell zu Ukip wechselte. Das hielt nur
       drei Jahre, 2017 holten die Tories den Sitz zurück. Aber zwischendurch beim
       Brexit-Referendum 2016 lag Clacton mit 70 Prozent Brexit-Stimmen mit an der
       Spitze landesweit.
       
       Clacton ist eine verarmte Kleinstadt, fast ausschließlich weiß, bei der
       Volkszählung 2021 waren mehr als die Hälfte der 53.208 Einwohner:innen
       über 65 Jahre alt. Sie gelten als Farages Kernwähler:innen.
       
       ## Er übertreibt mit seinen Argumenten
       
       Mit 25 Jahren ist Victoria Bowen eine der wenigen Jüngeren in Clacton. Beim
       Einkaufen nach Farage gefragt, antwortet sie mit der Bezeichnung eines
       hinteren Körperteils unterhalb der Gürtellinie. „Ich werde die Stadt
       verlassen, wenn er hier punktet“, verspricht sie und schimpft: „Er
       übertreibt mit seinen Argumenten und ist meiner Meinung nach
       borderline-rassistisch!“ Sie werde am 4. Juli Labour wählen, nicht jedoch
       aus großer Überzeugung, gesteht sie, denn der ambitionierte Corbyn habe ihr
       besser gefallen als Starmer. Victorias Mutter sieht die Dinge anders. Sie
       tendiert eher in Richtung der Tories, aber sie wohnt gar nicht in Clacton.
       
       „Farage kann den Menschen hier nicht helfen, aber es wird mit Sicherheit
       einen Medienzirkus geben“, glaubt beim Hundespaziergang am Strand der
       47-jährige Peter Hoare. Er werde Labour wählen, die einzige Partei von der
       seine behinderte Mutter je profitiert habe, wie er sagt.
       
       Am Strand gibt sich auch die 39-jährige IT-Expertin Lisa Lee-Jacobs
       fassungslos. Farage vertrete keine britischen Werte, sagt sie: „Britische
       Werte, das sind Toleranz und das Gemeinsame mit Menschen anderer Kulturen!“
       Farage hingegen würde Leute gegeneinander aufhetzen. Aber auch sie glaubt,
       dass Farage wegen der Alten eine Chance hat.
       
       Wobei nicht alle Alten für Farage sind. Ex-Pfleger Steve, 71, ebenfalls mit
       Hund am Strand unterwegs, will Farage ebenso wenig wählen, wie der nahezu
       zahnlose ehemalige Milchlieferant Steve Tyler, 72. Sie bleiben bei den
       Konservativen. „Die Tories hatten einfach nur Pech mit der Pandemie und dem
       Ukrainekrieg“, sagt Steve.
       
       ## Farage will die Themen bestimmen
       
       Nach Umfragen, die allerdings vor Farages Kandidatur entstanden, liegen die
       Tories in Clacton knapp vorn. Farage könnte seine Partei dort zum Sieg
       führen, glauben viele politische Beobachter:innen – aber landesweit
       dürfte Reform UK kaum Wahlkreise gewinnen. Sie könnten höchstens den Tories
       überall Stimmen abnehmen und damit den absehbaren Labour-Sieg noch weiter
       festigen. In manchen aktuellen Umfragen liegt der Labour-Vorsprung zu den
       Tories derzeit bei 24 Prozent, Keir Starmer könnte den Erfolg Tony Blairs
       1997 sogar übertreffen.
       
       [2][Je schlechter die Tories abschneiden], desto mehr Chancen rechnet sich
       Farage für seine politische Zukunft aus. Seine Partei könnte langfristig
       die Konservativen als wichtigste Kraft der britischen Rechten ablösen –
       oder er selbst könnte ihre Führung übernehmen.
       
       In jedem Fall wird sich Farage im Wahlkampf auf seine eigene Art bewähren,
       indem er wieder einmal die Themen bestimmt, so wie während der
       Brexit-Jahre. Tories wie Labour sprachen am Montag und Dienstag von nichts
       anderem, als wie sie die Einwanderungszahlen verringern würden. Für Farage
       bereits ein politischer Sieg.
       
       4 Jun 2024
       
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