# taz.de -- Cannes-Preisträger Sean Baker: Kollegial blickt er aufs Low Life
       
       > US-Regisseur Sean Baker erzählt in seinen Filmen von Sex Worker:innen
       > oder Ex-Knastis. Für „Anora“ erhielt er nun die Goldene Palme von Cannes.
       
 (IMG) Bild: Erhält die Goldene Palme der 77. Filmfestspiele in Cannes: der US-amerikanische Filmregisseur Sean Baker
       
       Sex Worker:innen, Ex-Knastis, Kellner:innen, Stripper:innen. Sie alle haben
       großartige Geschichten zu erzählen. Aber grenzprekäres „Low Life“ zu
       portraitieren, ohne dabei ausbeuterisch zu sein, ist eine Kunst. Sean
       Baker, dessen neuer Film „Anora“ soeben bei den [1][Filmfestspielen in
       Cannes mit dem Hauptpreis], der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde,
       beherrscht sie hervorragend: Der 53-jährige Regisseur steht für eine neue,
       nahe Art des Filmemachens, in der narrative Hierarchien nicht gelten.
       
       Baker wurde 1971 in New Jersey in eine Mittelstandfamilie hineingeboren,
       und legte eine klassische Smart-New-Yorker-Filmkarriere hin: Er studierte
       Filmwissenschaften an der University of New York, lernte Filmmontage in
       Greenwich Village, und beschäftigte sich schon bei seinen ersten beiden
       Werken „Four Letter Words“ und „Take Out“ mit alltäglichen Charakteren –
       mit der Sprache, den Codizes und den Ansichten junger männlicher
       Amerikaner, und dem täglichen Leben illegaler chinesischer
       Einwander:innen in New York. Schon damals war Bakers Blick nie
       voyeuristisch oder sozialdramatisch, sondern stets definiert durch
       Intimität, Mitgefühl und Humor.
       
       In „Starlet“ von 2012 erzählte er mit beiläufigem Unterton die Geschichte
       einer 22-jährigen Pornodarstellerin in Los Angeles, die sich mit einer
       stacheligen, 85-jährigen Nachbarin anfreundet. Das Gewerbe selbst wird hier
       nicht als körperlastiger Male Gaze-Hingucker inszeniert, sondern bleibt im
       Hintergrund. Denn im Zentrum der Geschichte der beiden untypischen
       Heldinnen steht deren Freundinnenbeziehung.
       
       2015 drehte Sean Baker auf drei iPhones und mithilfe von damals brandneuen
       anamorphotischen Linsen [2][den Film „Tangerine“] um eine energetische
       trans Sexworkerin namens Sin-Dee Rella, gespielt von der (bislang)
       Einmal-Schauspielerin Kitana Kiki Rodriguez. Das von rasantem
       Latino-Schimpftiraden geprägte, hochkomische Eifersuchtsspektakel trägt
       sich an Heiligabend auf dem Transenstrich zu. Und Baker nutzt auch hier die
       Umgebung als farbenfrohe, nie sensationalistische „Spielwelt“ – die Story
       selbst stammt originär von den Beteiligten.
       
       ## Ein Kind in der Peripherie von Orlando
       
       In Bakers nächstem [3][Film „The Florida Project“] von 2017 nahm er die
       Erzählperspektive eines Kindes ein: Die sechsjährige Mooney (Brooklynn
       Kimberley Prince) lebt mit ihrer Mutter in der durch quietschbunte Gebäude
       geprägten Peripherie des Vergnügungsparks Disneyland in Orlando. Was sich
       erwachsenen Zuschauer:innen als Plastik-Slum samt arbeitsloser, zum Teil
       zugedröhnter Bewohner:innen darstellen könnte, ist für die
       Protagonistin ein magischer Ort. Auch hier zeigte sich Bakers Faible für
       erzählerische Solidarität.
       
       Mit ebenso viel Anteilnahme näherte er sich 2021 seinen Charakteren in
       [4][„Red Rocket“]. Der in Cannes uraufgeführte Film über den ehemaligen
       Pornostar und Ex-Knasti Mikey, gespielt vom (wen wundert’s) durch eigene
       Pornofilmerfahrung ausgefuchsten Simon Rex Cutright, der sich nach der
       sieglosen Rückkehr in sein texanisches Heimatkaff in eine 17-Jährige
       verliebt, brilliert durch Charme und Kollegialität. Niemand hat hier ein
       Problem mit irgendeiner Art von Lifestyle – nicht Mikey, nicht dessen
       biestige Exfrau und -kollegin Lexi, die ihm immer noch anstandslos die
       Sexakt-Expertise bestätigt, und auch nicht eine inzwischen drogendealende
       Schulfreundin.
       
       Auch der soeben mit dem wichtigsten Preis des Cannes-Festivals
       ausgezeichnete „Anora“, wie all seine Werke produziert von Bakers Ehefrau
       Samantha Quan, lässt Underdogs lust- und humorvoll aufeinanderprallen. In
       der modernen Version einer Märchenerzählung heiratet eine russischstämmige
       Stripperin den Sohn eines russischen Oligarchen, was dessen Vater nicht
       gerade glücklich macht. Aber Bakers Charaktere agieren, wie üblich,
       selbstbestimmt und unabhängig. Eine gleichberechtigte Welt scheint für
       Baker möglich – ganz egal in welcher Klasse.
       
       26 May 2024
       
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