# taz.de -- Die Gewinnerfilme in Cannes: Der Lohn des Muts
       
       > Der US-Regisseur Sean Baker gewinnt mit „Anora“ in Cannes die Goldene
       > Palme. Für den iranischen Filmemacher Mohammad Rasoulof gibt es den
       > Spezialpreis.
       
 (IMG) Bild: Sean Baker mit seinem Preis, 25.Mai 2024
       
       Dieses Filmfestival war in Teilen ein Festival der enttäuschten
       Erwartungen. So hatte es im Vorfeld Hinweise gegeben, dass [1][das Thema
       #MeToo die 77. Ausgabe der internationalen Filmfestspiele von Cannes auch
       mit Protesten beherrschen könnte]. Am Ende blieb es weitgehend ruhig, von
       einigen Plakaten in der Stadt oder Aufklebern in Kinosälen mit dem
       Schriftzug „Patriarcannes“ einmal abgesehen. Das Programm musste nicht
       umgestoßen, kein Filmemacher wegen öffentlicher Anschuldigungen aus dem
       Wettbewerb ausgeschlossen werden.
       
       In diesem Jahrgang war andererseits auch die Auswahl von besonders
       schwankender Qualität. Darunter vieles nur halb Überzeugendes oder halb
       Geglücktes, wenige Ausbrüche nach oben.
       
       Dass der am stärksten polarisierende Film im Wettbewerb, [2][Coralie
       Fargeats Horrorkomödie „The Substance“], von der Jury unter dem Vorsitz der
       Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig am Sonnabend den Preis für das
       beste Drehbuch erhielt, war bei der übersichtlichen Anzahl an Ideen des
       Plots einerseits eine verwunderliche Wahl, andererseits war ein Preis für
       den mit Abstand kunstblutigsten Film des gesamten Festivals zu erwarten
       gewesen.
       
       Der Hauptpreis, die Goldene Palme, ging hingegen an den
       [3][US-amerikanischen Regisseur Sean Beaker für seine auf ihre Art
       ebenfalls drastische Komödie „Anora“], passend zur Begeisterung, mit der
       dieser Film aufgenommen wurde. Baker erzählt darin von einer Sexarbeiterin,
       die an einen jungen Oligarchenspross als Kunden gerät, sich in ihn verliebt
       und während einer Reise in Las Vegas spontan heiratet.
       
       Das Ungemach, das für das junge Paar folgt, sobald die Eltern vom neuen
       Familienstand ihres Sohns erfahren, nutzt Baker für Situationskomik mit
       sicherem Sinn für Timing. Denn nach dem Willen der Eltern soll es diese Ehe
       nicht geben, und da sie selbst in Russland leben, schicken sie Handlager,
       damit diese sich der Sache annehmen.
       
       Nebenbei deutet der Film Themen wie #MeToo auf der Bildebene an, ohne dass
       er sich inhaltlich mit sexualisierter Gewalt befassen würde. Anora,
       gespielt von der energischen Mikey Madison, muss zumindest erfahren, wie es
       ist, wenn man sich einer Überzahl von Männern gegenübersieht, die ihre
       Freiheit bedrohen. Doch selbst in dieser Lage weiß sie sich verbal wie
       körperlich nach Kräften zu verteidigen. Man kann die Trophäe für Bakers
       struppiges Ungestüm allemal rechtfertigen.
       
       Payal Kapadias „All We Imagine as Light“ 
       
       Ein nicht weniger würdiger Kandidat wäre [4][„All We Imagine as Light“
       gewesen, der zweite Spielfilm der indischen Regisseurin Payal Kapadia].
       Diese erhielt für ihre in ruhigen Bilder inszenierte Geschichte, in der sie
       die Schicksale dreier Frauen in Mumbai verbindet, die zweitwichtigste
       Auszeichnung, den Großen Preis der Jury.
       
       Als Ehrung immer noch angemessen, Kapadias Arbeit, in der sie mehr zeigt
       als erzählt, ist stilsicher und verbindet elegant dokumentarische Bilder
       mit den gespielten Szenen. Und die Mittel, mit denen sie einzelne Fäden der
       Handlung zusammenführt, haben mitunter etwas unbekümmert Verspieltes.
       
       So weit, so gut. Dem steht dafür eine Reihe von Filmemachern entgegen, die
       eine höhere oder überhaupt eine Auszeichnung verdient hätten. Die
       Langzeitbeobachtung der Transformation Chinas, die [5][Jia Zhangke in
       „Caught by the Tides“] bietet, ist ebenso beachtlich wie [6][Andrea Arnolds
       eigensinnige Verschaltung von Sozialbautristesse und magischem Realismus in
       „Bird“]. Beide gingen leer aus.
       
       Nur Spezialpreis für Mohammad Rasoulof 
       
       Am enttäuschendsten ist allerdings der Spezialpreis, den die Jury [7][dem
       iranischen Regisseur Mohammad Rasoulof] für dessen „The Seed of the Sacred
       Fig“ zuerkannt hat. Rasoulof war zuvor von iranischen Behörden unter Druck
       gesetzt worden, seinen Beitrag aus dem Wettbewerb zurückzuziehen, und nach
       seiner Verurteilung zu einer achtjährigen Haftstrafe aus dem Land geflohen.
       Am Freitag erschien er in Cannes auf dem roten Teppich, erhielt bei der
       Premiere vorab minutenlange Standing Ovations und nach dem Film noch einmal
       rund eine Viertelstunde davon. Er schien, wie der Rest seines anwesenden
       Teams, mit den Tränen zu kämpfen.
       
       Mit „The Seed of the Sacred Fig“ greift Rasoulof das iranische Regime in
       aller Direktheit an. Dieses wird repräsentiert von einem Familienvater, der
       am Revolutionsgericht frisch zum Ermittlungsrichter befördert wurde, genau
       in dem Moment, als im Land die Proteste gegen den Tod Jina Mahsa Aminis in
       Polizeigewahrsam losbrechen. Seine Töchter hingegen beurteilen die
       Berichterstattung in den Medien dazu höchst distanziert, sie erleben
       fassungslos, wie eine Freundin am Rand einer Demonstration gefährlich
       verletzt wird.
       
       Die Positionen sind in dieser Konstellation klar verteilt, was dem Drama,
       das Rasoulof daraus entstehen lässt, nichts von seiner Wucht nimmt. Für
       Ambivalenz sorgen insbesondere die Eltern, die sich selbst unter
       Beobachtung des Regimes sehen.
       
       Rasoulof führt diese politisch toxische Mischung in eine ausweglose
       Situation, die als Anklage gegen das „System“ im Iran an Deutlichkeit
       nichts zu wünschen übrig lässt. Vor dieser entschlossenen Wut hat die Jury
       womöglich Angst bekommen, anders ist schwer zu erklären, warum Rasoulof mit
       dem Spezialpreis vertröstet wurde. Für das Festival ein eher peinliches
       Ergebnis.
       
       Seltsam unentschlossene Würdigung 
       
       Vor dem Hintergrund verblasst etwas der Jurypreis für Jacques Audiards
       Transgender-Musical „Emilia Pérez“, das im mexikanischen Narcosmilieu
       spielt. Und dass sich dessen Hauptdarstellerinnen Karla Sofía Gascón und
       Zoe Saldana diesen Preis mit den weiteren Darstellerinnen des Films Selena
       Gomez und Adriana Paz teilen müssen, ist wieder so eine seltsam
       unentschlossene Würdigung, die leicht beleidigend wirkt.
       
       Dann lieber noch ein Blick auf ein paar Höhepunkte aus dem Programm der
       Nebenreihen. Mit „Black Dog“ hat der chinesische Regisseur Guan Hu, neben
       Jia Zhangke, eine weitere Transformationsgeschichte aus dem Land
       präsentiert. Mit sperrigen Protagonisten, einer rührend kitschfreien
       Mensch-Hund-Beziehung und wunderbaren Aufnahmen von schief in die
       Landschaft gewachsenen Bauten, die stadtplanerischen Projekten weichen
       müssen. Dafür gab es verdient den Preis der Sektion „Un Certain Regard“.
       
       Aus derselben Reihe gab es die Camera d’or für den besten Erstlingsfilm für
       „Armand“ von Halfdan Ullmann Tøndel. Der Enkel von Liv Ullmann und Ingmar
       Bergman erzählt in seinem Spielfilmdebüt von einer Singlemutter, die an die
       Schule ihres Sohns zitiert wird, weil es einen „Vorfall“ gab mit einem
       anderen Schüler. Renate Reinsve spielt diese Mutter mit einer Vielzahl an
       Nuancen, und sie schafft es in einer Szene, minutenlang so in einen
       Lachanfall auszubrechen, dass sie mit ihrer Darbietung den Höhepunkt des
       Films schafft.
       
       Animationsfilme des Jahrgangs 
       
       Erfreulich zudem die Zeichentrickbeiträge dieses Jahrgangs, etwa der
       lettische Animationsfilm „Flow“ von Gints Zilbalodis, in dem eine Katze auf
       große Entdeckungsfahrt geht und dabei in ständiger Bewegung bleibt. Eine
       Flut zwingt sie in ein verlassenes Segelboot, nach und nach schließen sich
       weitere Tiere wie ein Hund oder ein Biber an. Eine charmant unperfekte
       Animation trägt zum Gelingen dieses Abenteuers ganz ohne menschliche
       Figuren maßgeblich bei.
       
       Noch schöner der japanische Film „Ghost Cat Anzu“ von Yôko Kuno und
       Nobuhiro Yamashita aus der unabhängigen Reihe Quinzaine des cinéastes, in
       dem eine mannsgroße Katze am liebsten mit dem Moped durch die Gegend fährt
       und bei Gelegenheit Quatsch macht. Für ein auf sich gestelltes Mädchen
       bietet sich Anzu nichtsdestotrotz als Freund an. Ein vor anarchischen
       Einfällen nur so strotzendes Wunderwerk des unorthodoxen Kinderfilms.
       
       Zuletzt sei eine kleine Komödie erwähnt, die sich ausschließlich einem
       einzigen Baseballspiel widmet. „Eephus“ von Carson Lund ist ein Sportfilm,
       der wenig Interesse an Menschen zeigt, die sich zu Höchstleistungen
       zwingen, er beobachtet vielmehr eine Gemeinschaft von – fast – nur Männern,
       die in einem Vorort an der Ostküste der USA zum letzten Mal ihrer
       Leidenschaft für Baseball frönen. Das Feld, auf dem sie sich jahrzehntelang
       getroffen haben, muss einem Gebäude weichen.
       
       Lund führt eine Reihe schräger Charaktere zusammen, die so hart wie weich
       sind, und nicht pausenlos, aber sehr ausgiebig über den Sport ihrer Herzen
       sprechen. Für Kundige wie Unkundige hat das großen Reiz. Inklusion der
       ungewöhnlicheren Art.
       
       26 May 2024
       
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