# taz.de -- Hochwasser als Wahlkampfhilfe: Stiefeln statt handeln
       
       > Wie wirkt sich die Flutkatastrophe in Süddeutschland auf die Wahlen am
       > Sonntag aus? Die Forschung hat überraschende Antworten.
       
 (IMG) Bild: Mit diesen Exemplaren besuchte Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) am 2. Juni das vom Hochwasser betroffene Babenhausen
       
       BERLIN/KONSTANZ/MÜNCHEN „Servus“, sagt Andrea Wörle, Spitzenkandidatin der
       bayerischen Grünen, „darf ich Ihnen einen Flyer geben?“ Es ist
       Mittwochmorgen kurz nach acht Uhr. Ein herrlicher Frühlingstag bricht an,
       während die 38-Jährige vor einer U-Bahn-Station in der Münchner Innenstadt
       Passant*innen anspricht. „Demokratie verteidigen“, steht auf ihrem
       Flugblatt zur Europawahl.
       
       Von Zeit zu Zeit gelingt es Wörle, einem zur Arbeit strebenden Menschen
       einen Zettel in die Hand zu drücken. „Nein, danke!“, sagen andere. Nur
       einer sucht das Gespräch – oder eher die Gelegenheit, die Partei zu
       beschimpfen. „Ich habe euch früher immer gewählt, das geht jetzt nicht
       mehr“, sagt der Mann. Ihm geht es um den Gazastreifen.
       
       Eine Ausnahme, beteuert Wörle später. Am Dienstag, beim Haustürwahlkampf,
       habe es richtig gute Gespräche gegeben – über den Kampf gegen rechts, die
       AfD und Meloni.
       
       Und das Hochwasser? Die Klimakrise? Von der U-Bahn sind es keine 300 Meter
       bis zur Isar. Deren Anblick erinnert daran, [1][was in anderen Teilen
       Bayerns immer noch los ist]: Nach dem Starkregen der Vortage brausen
       Wassermassen voller Schlamm und Treibgut flussabwärts.
       
       ## Es geht klimapolitisch um viel
       
       Sie habe schon den Eindruck, dass jetzt wieder mehr über Klimaschutz
       gesprochen werde, sagt Wörle. Aber das dominante Thema sei der auch nach
       dem Hochwasser nicht. Ob die Flut die Wahl beeinflusst? Wörle zuckt die
       Schultern. „Das sehen wir am Sonntag.“
       
       Es gab eine Zeit, in der die Antwort wohl eindeutiger ausgefallen wäre.
       [2][Im Jahr 2018 ächzte Deutschland unter einem Dürresommer], dem
       schlimmsten seit Beginn der Aufzeichnungen. Die Klimakrise wurde fühlbar –
       und die Grünen kletterten in Umfragen auf Rekordwerte. Im Jahr darauf,
       Fridays for Future brachte Millionen auf die Straße, triumphierte die
       Partei bei den Europawahlen. Für viele Beobachter*innen war der
       Zusammenhang eindeutig: Die Klimapolitik hatte den Wahlkampf dominiert.
       
       Bei der Wahl an diesem Sonntag geht es klimapolitisch um viel. Der
       [3][Green Deal], den Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU)
       vorangetrieben hat und der Europa bis 2050 klimaneutral machen soll, steht
       auf der Kippe. Von der Leyens eigene Partei rüttelt im Wahlkampf am Ende
       des Verbrennungsmotors, das eigentlich für 2035 geplant ist.
       
       Einer ARD-Umfrage zufolge sind den Wähler*innen aber die Bereiche
       Frieden, Soziales und Migration wichtiger als das Klima. Die Grünen werben
       zwar weiter für den Green Deal, stellen das Thema aber auch nicht an erste
       Stelle – und verzichten auf ehrgeizige Forderungen. Die Europäische Grüne
       Partei (EGP) fordert in ihrem Wahlprogramm Klimaneutralität schon 2040. Die
       Bundespartei vermeidet penibel, diese Zahl in den Mund zu nehmen. Deutlich
       ist die Sorge zu erkennen, die Menschen nach Corona, Krieg und Krise mit zu
       viel Klimapolitik zu verschrecken. Im Kern hat daran auch das Hochwasser in
       Süddeutschland nichts geändert.
       
       ## Der Bau von Poldern stockt in Bayern
       
       Mittwoch, später Nachmittag, Berlin. In einem Club am Rande Kreuzbergs
       macht der grüne Wahlkampftross Station. Als Parteichef Omid Nouripour auf
       die Bühne kommt, beginnt es zu nieseln. Als einziger Redner wird er mehr
       als zwei Sätze lang über das Hochwasser sprechen. Erst mal geht es ihm um
       den tödlichen Messerangriff von Mannheim – das zweite Ereignis, das kurz
       vor der Wahl deren Ausgang verändern könnte. Nouripour dankt der Polizei
       für ihre Arbeit, fordert mehr Prävention gegen Islamismus und kritisiert
       die Abschiebedebatte anderer Parteien.
       
       Der kleinere Teil seiner Rede dreht sich dann um die Flut. Und selbst jetzt
       konzentriert er sich nicht auf Forderungen nach mehr Klimaschutz, sondern
       auf Klimaanpassung. „Markus Söder hatte im Hochwassergebiet nur ein Ziel –
       dass er vorne steht, wenn die Fotos gemacht werden. Ich kann nur sagen: Der
       Mann soll arbeiten!“, ruft Nouripour. Seitdem Söder in der Staatskanzlei
       sitze, sei die Arbeit am Hochwasserschutz in Bayern „nachweislich
       eingestellt“. [4][Der Bau von Poldern stockt seit 2018].
       
       Eine ZDF-Umfrage, erstellt nach der Flut, beinhaltet im Vergleich zur
       Vorwoche kaum Veränderungen. Welche Auswirkungen das Hochwasser tatsächlich
       auf die Wahl hat, lässt sich frühestens am Sonntagabend erkennen. Man kann
       aber nachlesen, was über frühere Katastrophen und ihren Einfluss auf die
       politische Stimmung bekannt ist.
       
       „Das Wetter ist politisch“, heißt eine Studie aus dem vergangenen Jahr,
       „Starkregen, Hochwasser und Flut vor der Bundestagswahl 2021“. Johannes
       Schmidt ist Humangeograf, sein Co-Autor Sebastian Pink ist
       Sozialwissenschaftler und Statistiker. Mit ihrer Untersuchung über die
       Ahrtalflut wollten die beiden Freunde der Frage nachgehen: Erkennen die
       Menschen im Ernstfall die Dramatik der Klimakrise, ändern sie deshalb ihr
       Wahlverhalten?
       
       ## Wird es eine Klimawahl?
       
       Und: Profitieren die Grünen politisch von Hochwassern? „Wir hatten uns
       gewundert, aber vor uns hatte das offenbar noch niemand untersucht“, so
       Schmidt. Zuvor hatten andere Wissenschaftler*innen nur nachgewiesen,
       dass Menschen, die selbst Extremwetter erleben, Klimapolitik wichtiger
       nehmen. Das Ergebnis der neuen Studie: Die Grünen erreichten in den vom
       Hochwasser betroffenen Regionen durchschnittlich 3,2 Prozentpunkte mehr als
       anderswo.
       
       Für die Erkenntnis gelten aber zwei Einschränkungen. Erstens gibt es keine
       Studien darüber, wie sich diese oder andere Katastrophen überregional
       ausgewirkt haben. Ein Hitzesommer wie 2018 lässt das ganze Land die
       Dringlichkeit der Klimakrise spüren, ein Hochwasser betrifft nur einzelne
       Regionen. „Die persönliche Betroffenheit ist sehr wichtig“, sagt Johannes
       Schmidt.
       
       Zweitens wies die Studie noch einen weiteren Effekt nach, der stärker
       wirkte als der Zuwachs der Grünen: den Amtsinhaberbonus. Die Deutschen
       kennen ihn seit dem Bundestagswahlkampf 2002, als Bundeskanzler Gerhard
       Schröder als Fluthelfer in Gummistiefeln an der Elbe auftrat. Empirisch
       nachweisen konnten ihn Schmidt und Pink jetzt ausgerechnet für den
       CDU-Kanzlerkandidaten und NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet, der sich
       blamierte, als er sich nach der Flut kichernd im Ahrtal filmen ließ.
       
       Trotz seines Feixens erhielt die CDU in NRW in den Flutgebieten 6,6
       Prozentpunkte mehr als in nicht betroffenen Regionen. „Wir haben alles noch
       mal nachgerechnet“, erinnert sich Schmidt an seine eigene Verwunderung.
       Aber die Zahlen stimmten.
       
       ## Gummistiefel sticht Klimapolitik
       
       Im Katastrophenfall wählen Menschen am ehesten die Partei ihres
       Ministerpräsidenten, offenbar unabhängig von seiner bisherigen Klima- und
       Hochwasserpolitik. Das Bedürfnis, Politiker*innen für ihre Soforthilfe
       zu danken, fanden Wissenschaftler*innen auch bei Wahlen nach Starkregen
       in den USA und nach Erdbeben in Italien.
       
       Am Sonntag also könnten in Bayern vom Hochwasser ausgerechnet Markus Söder
       und seine CSU profitieren – die im Wahlkampf für den Verbrennungsmotor
       warben. Gummistiefel sticht Klimapolitik: Wer die Bedrohung durch die
       Klimakrise kleinredet, wird unter Umständen auch noch belohnt.
       
       Dazu passt ein Stimmungsbild aus der CSU. Auch dort tut man sich zwar
       schwer damit, die Bedeutung der Flut für die Wahl einzuschätzen. Wichtig
       sei es aber auf jeden Fall, Präsenz in den Katastrophengebieten zu zeigen
       und möglichst nah dran an den Betroffenen zu sein. Also genau das, was
       Söder seit Tagen macht. Und der Klimaschutz? Zum Green Deal stehe man
       weiter, heißt es aus der Partei, Verbrenner hin oder her. Eine
       Rückabwicklung werde es nicht geben.
       
       In der Aussprache zur Regierungserklärung des Kanzlers im Bundestag spart
       Unionsfraktionschef Friedrich Merz am Donnerstagmorgen die Themen Flut und
       Klima komplett aus. Olaf Scholz nannte den Klimawandel zuvor zwar die
       „größte globale Herausforderung“, in der öffentlichen Debatte bleibt von
       seiner Rede aber die Forderung hängen, nach Syrien und Afghanistan
       abzuschieben. Sowenig aus der Bevölkerung ein Ruf nach mehr Klimaschutz zu
       vernehmen ist – so wenig bemüht sich umgekehrt die Politik, den 9. Juni zur
       Klimawahl zu machen.
       
       ## „Da isch noch Platz“
       
       Mittwochmittag in Konstanz, Baden-Württemberg. Der Bodenseepegel hat die
       Hochwassermarke von 4,80 Metern überschritten. Eine Landstraße in der Nähe
       stand in den Tagen zuvor unter Wasser. Einsatzkräfte mussten Keller und
       Lagerflächen leer pumpen. Nach Angaben der Rettungskräfte kam die Stadt
       glimpflich davon.
       
       Für die Konstanzer*innen sei das Hochwasser vor der Tür kein großes
       Thema, sagt Bernhard Hanke von der Linken. Bei der Kommunalwahl, die
       ebenfalls am Sonntag stattfindet, will er in den Stadtrat gewählt werden.
       „Die Leute gucken auf den Pegelstand, und solange ihr Keller nicht
       vollläuft, interessiert sie das nicht so“, sagt der 70-Jährige, der auf
       dem Wochenmarkt um Stimmen wirbt. Auch Kandidat*innen der anderen
       Parteien haben hier ihre Stände aufgebaut, und sie berichten ebenfalls,
       dass die Überschwemmungen hier nicht groß debattiert würden. „Jeder fährt
       mal ans Ufer und sieht: Da isch noch Platz“, sagt Manfred Hölzl, ein
       Kommunalpolitiker der CDU. „Die Konstanzer leben halt mit ihrem See.“
       
       Auch Stephan Grünewald glaubt nicht, dass das Hochwasser die Wahlen am
       Sonntag stark beeinflussen wird. Er ist Psychologe und Mitbegründer des
       rheingold Instituts, das regelmäßig Tiefeninterviews zu aktuellen
       politischen Fragen durchführt. Er berät auch die Bundesregierung.
       
       Grünewald sagt, er beobachte an vielen Menschen eine „seltsame
       Angstfaszination“ in der Reaktion auf Katastrophen. Diese führe aber
       nicht dazu, dass die Klimakrise ernster genommen würde, im Gegenteil. In
       einer Studie stellte er 2023 fest, dass sich viele Menschen politisch in
       ein Schneckenhaus zurückgezogen hätten. Klimakrise, Corona,
       Ukrainekrieg: „Die Vielzahl der Krisen, gegen die wir uns machtlos fühlen,
       führt dazu, dass wir sie ausblenden.“ Allerdings habe das Hochwasser in den
       von ihm betroffenen Gebieten eine große Hilfsbereitschaft bei vielen
       entfesselt. „Sie haben wieder das Gefühl, dass sie eingreifen und etwas
       verändern können.“ Im Landkreis Pfaffenhofen meldeten sich innerhalb
       kürzester Zeit Tausende Freiwillige. Grünewald spricht von „schlummernden
       Kräften der Solidarität“.
       
       Das Ohnmachtsgefühl haben diese Menschen für einen Moment überwunden. Wer
       weiß, vielleicht kehrt damit auch der Glaube daran zurück, dass sich die
       Klimakrise insgesamt überwinden lässt.
       
       8 Jun 2024
       
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