# taz.de -- Hoffnung in der Klimakrise: Die Flut als Erlösung
       
       > Dürre, Hitze, Flut und kaum Klimaschutz. Unser Autor hofft daher auf eine
       > Katastrophe, die für radikalere Klimapolitik sorgt. Ist das ein
       > Trugschluss?
       
 (IMG) Bild: Am Ufer der Hochwasser führenden Mulde bei Grimma im Dezember 2023
       
       Da ist eine leise Hoffnung, die mich nach jeder Naturkatastrophe
       beschleicht. Wenn in Brandenburg die Wälder brennen, die Ahr über ihre Ufer
       tritt und in Süddeutschland ganze Dörfer unter Wasser stehen, dann frage
       ich mich: Reicht es diesmal vielleicht dafür, dass endlich genug Menschen
       die Klimakrise ernst nehmen? Dass sie anfangen, zu handeln? Zu Hause, auf
       der Arbeit, politisch?
       
       Nach [1][dem jüngsten Hochwasser] sprach der bayerische Ministerpräsident
       Markus Söder davon, dass man sich dem Thema Klimaschutz jetzt „noch viel
       stärker“ widmen müsse. Und Bundeskanzler Olaf Scholz sagte, man dürfe die
       Aufgabe, den menschengemachten Klimawandel aufzuhalten, „nicht
       vernachlässigen“. Und trotzdem geht wohl auch diese Flut zurück, ohne dass
       ein Klimaruck durch Deutschland geht.
       
       Denn während die Auswirkungen der Klimakrise immer näher an uns
       heranrücken, wirkt die reale Klimapolitik derzeit wie eine Serie an
       Rückschlägen. Handwerkliche Fehler wie beim Heizungsgesetz führen zu
       gnadenloser Kritik, kleinste Verbesserungsvorschläge beim Klimaschutz wie
       bei der geplanten Streichung der Agrardiesel-Subventionen zu wochenlangen
       Protesten der betroffenen Bauern.
       
       Ein Großteil der Deutschen klammert sich an die fossile Normalität. Und
       belohnt Politiker:innen, die ihnen vermitteln, dass die Probleme, die sich
       mit immer mehr Wucht in unser Leben drängen, wahlweise gar nicht so
       dringend, gar nicht so ernst oder gar nicht unsere Verantwortung sind.
       Diese Denkweise zeigt sich in den jüngsten Wahlergebnissen: Bei der
       Europawahl überzeugten die Grünen und klimaprogressive Kleinstparteien nur
       noch knapp 17 Prozent der Wähler:innen, während sich 16 Prozent für die AfD
       und 30 Prozent für die Union entschieden.
       
       ## Ökologische Vernunft
       
       Brauchen wir also eine größere Katastrophe? Ein Ereignis, in der Wirkung so
       groß wie Tschernobyl oder Fukushima, das uns unsere Umweltsünden so
       eindeutig vorhält, dass es uns endlich zur ökologischen Vernunft treibt?
       
       Zugegeben, das ist eine düstere Vorstellung, doch sie hat eine theoretische
       Grundlage: Wenn wir Extremwetter am eigenen Körper oder im eigenen Umfeld
       erfahren, verringert sich die psychologische Distanz zu dem abstrakten
       Thema Klimakrise. Weil wir die Gefahr unmittelbarer wahrnehmen, steigt
       unsere Motivation zu handeln.
       
       Wie sehr sich der Effekt jedoch in der politischen Realität niederschlägt,
       ist in der Forschung umstritten. Zwar beschreibt [2][eine europäische
       Studie] einen Zusammenhang zwischen dem Erleben von Wetterextremen und dem
       Umweltbewusstsein in der Region und sogar dem Stimmenanteil von grünen
       Parteien bei EU-Parlamentswahlen. Aber [3][gleichzeitig fanden Forscher]
       nach der Flut im Ahrtal heraus, dass das Thema Klimawandel für die lokale
       Bevölkerung nur für kurze Zeit an Relevanz gewann. Die Datenlage sei
       gemischt, [4][fasst eine Meta-Studie zusammen], die 73 wissenschaftliche
       Arbeiten zum Thema analysierte.
       
       ## Es mangelt nicht an Angst
       
       Genau wie Massenschießereien in den USA nicht direkt zu strengeren
       Waffengesetzen führen, werden wohl auch Naturkatastrophen in Deutschland
       nicht unmittelbar für stärkeren Klimaschutz sorgen. Unvergessen bleibt da
       die Reaktion des damaligen CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet auf die Flut
       im Ahrtal, in der er seine Klimapolitik mit dem Satz verteidigte: „Weil
       jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik“.
       
       Wer Extremwetter persönlich erlebt, hat vor allem erst einmal eines: Angst.
       An Angst mangelt es schon lange nicht mehr. Seit Jahren zeigen Studien,
       dass die Sorgen vor der Klimakrise und der Zukunft insgesamt zunehmen.
       
       Vor allem die 14- bis 29-Jährigen in Deutschland werden von Jahr zu Jahr
       pessimistischer. In ihrer Sorge um ihre eigene wirtschaftliche Zukunft und
       über gesellschaftliche Herausforderungen wie den Schutz der Umwelt wenden
       sie sich dabei verstärkt rechten Parteien zu, wie die Europawahlen und eine
       im April veröffentlichte [5][Studie der Hertie School in Berlin] gezeigt
       haben.
       
       Das Ausmaß der Klimakrise überfordert und lähmt. Und so scheint das
       Heilsversprechen einer Katastrophe biblischen Ausmaßes für mich zwar
       verlockend – aber es bleibt eine Erlöserfantasie. Im schlimmsten Fall lenkt
       sie uns von den realen Herausforderungen im Hier und Jetzt ab.
       
       ## Was bringt die Wende?
       
       Aber wenn Naturkatastrophen und extremer werdendes Wetter nicht die Wende
       bringen, was dann?
       
       Im Kern liegt die Lösung dort, wo auch das Problem seinen Ursprung hat: in
       der Angst. Denn anders als oft vermutet, geht es heute kaum noch darum,
       Menschen davon zu überzeugen, dass die Klimakrise ein ernstes Problem ist.
       Auch wenn wir [6][systematisch unterschätzen], wie sehr unsere Mitmenschen
       die Klimakrise besorgt: Die allermeisten von uns haben bereits heute ein
       hohes Problembewusstsein.
       
       So gaben 2022 in einer Studie des Umweltbundesamtes 85 Prozent der
       Befragten an, dass sie Trockenheit und Dürren als Folge des Klimawandels
       wahrnehmen, 83 Prozent sehen auch Starkregen und Hochwasser als Folge. Fast
       alle Befragten befürworten einen umwelt- und klimafreundlichen Umbau der
       Wirtschaft.
       
       Es geht also darum, wie es uns gelingen kann, die real existierenden Sorgen
       und Ängste in Handlungen zu übersetzen. Deshalb führt an einer Sache kein
       Weg vorbei: Wir müssen miteinander über die Klimakrise sprechen. Im
       Wohnzimmer, im Büro, im Parlament. Und bei all ihren Schrecken bieten
       Fluten und Hitzesommer dafür einen möglichen Einstieg.
       
       Laut dem Kommunikationswissenschaftler Josh Ettinger bergen persönliche
       Gespräche ein Potenzial, welches in der Einbahnstraßen-Kommunikation durch
       Wissenschaft und Medien fehlt. Sie können Räume öffnen, in denen nicht nur
       Fakten kommuniziert werden, sondern auch über Erfahrungen und Gefühle
       gesprochen wird. Diese Gespräche bilden die Basis, auf der dann gemeinsame
       Handlungsoptionen erkundet werden können.
       
       Ein Beispiel dafür, wie aus Gesprächen Handlungen entstehen, ist die
       Geschichte des US-Klimavorkämpfers Bill McKibben. Nachdem er die
       Umweltorganisation 350.org mitaufgebaut hat, organisiert er heute
       Senior:innen in der Bewegung Third Act. Das Ziel: Die finanziellen und
       zeitlichen Ressourcen der über 60-Jährigen zu mobilisieren, um Druck gegen
       Kohle- und Gasprojekte und für den Ausbau der Erneuerbaren zu machen. Knapp
       70.000 Freiwillige zählt die Bewegung mittlerweile.
       
       ## Die herabstürzende Kaffeetasse
       
       Und wem die jüngsten Rückschläge die Hoffnung trüben – dass es auch beim
       Klima plötzlich und schnell zu Veränderungen kommen kann, zeigt [7][das
       Konzept der sozialen Kipppunkte]. Damit beschreiben
       Sozialwissenschaftler:innen, wie auch Minderheiten in einer Gesellschaft
       Dynamiken anstoßen können, die ein soziales System in einen neuen Zustand
       versetzen. Diesen plötzlichen Zustandswechsel kann man sich vorstellen wie
       eine Kaffeetasse, die man langsam über den Tischrand schiebt. Lange scheint
       es so, als passiere nichts. Bis die Tasse plötzlich abstürzt.
       
       Forscher:innen haben bereits mehrere Kipppunkte identifiziert, von denen
       einige gar nicht mehr so weit entfernt erscheinen. Im Energiesystem ist der
       Zeitpunkt erreicht, wenn es für alle Akteure lukrativer wird, in
       erneuerbare Energien zu investieren als in fossile. Im Bankensektor dann,
       wenn die Angst vor Verlusten so groß wird, dass klimaschädliche
       Investitionen zum Anlagerisiko werden. Bei sozialen Normen, wenn
       klimafreundliches Verhalten zur anerkannten Regel in einer Gesellschaft
       wird.
       
       Die nächste Flut wird kommen, ohne Zweifel. Die Vorstellung, dass sie die
       Klimawende bringen wird, mag mein persönliches Wunschdenken bleiben. Aber
       zumindest wird uns jedes durch sie angestoßene Gespräch auch den positiven
       Kipppunkten ein bisschen näher bringen.
       
       28 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Hochwasser-in-Sueddeutschland/!6015270
 (DIR) [2] https://www.nature.com/articles/s41558-021-01263-8
 (DIR) [3] https://www.journals.uchicago.edu/doi/suppl/10.1086/726917
 (DIR) [4] https://iopscience.iop.org/article/10.1088/1748-9326/ab466a
 (DIR) [5] https://www.hertie-school.org/de/beitrag/content/studie-junge-menschen-in-deutschland-sorgen-sich-um-ihre-zukunft
 (DIR) [6] https://www.nature.com/articles/s41467-022-32412-y
 (DIR) [7] /Wissenschaftlerin-ueber-Klimabewegung/!5711557
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Mitsuo Iwamoto
       
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