# taz.de -- Reise zur Donaumündung: Auf null gestellt
       
       > Das rumänische Sulina an der Donaumündung galt einst als wirtschaftlicher
       > Mittelpunkt des Flusses. Heute muss die Kleinstadt sich neu erfinden.
       
 (IMG) Bild: Bis heute besitzt Sulina keinen Straßenanschluss. Deshalb müssen alle Waren mit dem Schiff dorthin gebracht werden
       
       SULINA taz | Stunden vor der Abreise fahren Lieferwagen an den Kai. Es
       werden Waren entladen. Tüten, viele Tüten verschwinden im Bauch der
       „Banat“, eines weißen Passagierschiffs, dazu Toilettenpapier in großen
       Quantitäten, schließlich eine Waschmaschine und wieder Tüten unbestimmten
       Inhalts. Unübliches Gepäck für einen Ausflug auf der Donau.
       
       Dann tauchen die ersten Passagiere auf, viele ältere Frauen und Männer sind
       darunter. Um halb zwei dröhnt das Horn der „Banat“, der Diesel bewegt die
       Schraube und langsam löst sich das Schiff von der Reling in der rumänischen
       Stadt Tulcea. Der Steuermann schlägt den Weg donauabwärts ein. Die
       wenigsten seiner Passagiere interessieren sich für die Aussicht. Sie sitzen
       in den Aufenthaltsräumen. Das Radio plärrt. Draußen ist es kühl.
       
       Das Schiff fährt nach Sulina, dorthin, wo die Europäische Union endet. Die
       Kleinstadt [1][im Donaudelta], gelegen an der Strommeile null, nur ein paar
       Kilometer von der ukrainischen Grenze und dem Schwarzen Meer entfernt,
       verfügt über keinen Straßenanschluss. Deshalb müssen alle Waren mit dem
       Schiff dorthin gebracht werden. Die Passagiere sind auch keine
       Tagestouristen. Es sind Menschen, die nach Hause fahren.
       
       Knapp vier Stunden später, nach etlichen Unterwegshalten an winzigen
       Siedlungen in einem Meer aus Schilf, legt die „Banat“ am Kai von Sulina an.
       Eine kleine Menschenmenge erwartet sie, als erhoffte sie sich ein
       besonderes Ereignis. Die Tüten werden eingesammelt, das Klopapier auch. Die
       Waschmaschine ist schon während eines Zwischenstopps von Bord gegangen.
       
       Gegenüber des Ankerplatzes erhebt sich ein zweigeschossiges Gebäude im
       klassizistischen Stil. Die weiße Farbe an seinen Außenwänden blättert ab.
       Ein Hund liegt träge vor der breiten Treppe, die zum Eingangsportal führt.
       „Verwaltung der Europäischen Donaukommission“ steht unter dem Giebel in
       großen Buchstaben geschrieben.
       
       Bei Liviu Simioncencu liegen Bilder aus der Zeit, als das Haus noch der
       Mittelpunkt Sulinas war. Ach was, als dieser Ort Mittelpunkt der ganzen
       Donau war, bis nach Wien und Regensburg hinauf! Der 65-jährige Fotograf
       sammelt Bilder aus der großen Zeit. Darauf sind Segel- und Dampfschiffe zu
       sehen, die in Sulina ankern, viele Schiffe. „Das Palais der europäischen
       Kommission ist heute für uns gesperrt“, bedauert er. Ja, irgendeine Behörde
       säße darin, deren Sinn und Zweck niemand kenne. Früher einmal, da habe es
       hinter dem Haus einen kunstvoll angelegten englischen Garten gegeben. Unter
       Nicolae Ceaușescu, dem Diktator aus kommunistischer Zeit, habe man die
       Bäume abgehackt. Heute liegt dort Gerümpel.
       
       Liviu Simioncencu, der einen schmalen Schnurrbart trägt, hat mit 15 Jahren
       angefangen zu fotografieren. Er sei Fotograf geworden, um die Geschichte
       seiner Heimatstadt zu dokumentieren, sagt er. Es ist eine Geschichte des
       Niedergangs.
       
       Auch der Lehrer Valentin Lavric interessiert sich für Geschichte. Er sitzt
       an der langen Promenade hin zur Donau, dort, wo die Menschen auf- und
       abpromenieren, als seien sie Mitarbeiter einer unsichtbaren Bühne und die
       Stadt eine Theaterdekoration aus Pappmaché. Etwa 3.200 Menschen lebten nach
       den offiziellen Statistiken noch in Sulina, sagt Lavric, „aber in Wahrheit
       sind es wohl nur noch 2.500“. Früher einmal waren es über 6.000 Menschen,
       und in den besten Zeiten noch viel mehr. Selbst das Krankenhaus habe man
       jüngst geschlossen und es gebe keinen Zahnarzt mehr.
       
       Früher einmal, das lässt sich auf verschiedene Zeiten beziehen. Etwa die
       unter Ceaușescu, als die Fischkonservenfabrik Hunderte Arbeitsplätze bot.
       Heute wachsen auf dem Dach des Gebäudes junge Bäume. Auch die
       Schiffswerkstätten am anderen Donauufer liegen verlassen da. Oder die
       Fischer: „Früher gab es 1.000 Fischer in Sulina“, sagt Lavric. Nur 100
       davon seien übrig geblieben. Nun will Valentin Lavric nicht die Zeiten
       Ceaușescus wiederhaben, ganz gewiss nicht, sagt er. Eher schon die, als die
       Stadt ein Zentrum Europas war, ein multikulturelles Eldorado. Das ist noch
       länger her. Ob eine solche Zeit nochmal wiederkommt für Sulina, daran hat
       der 57-Jährige Zweifel. Aber eines steht für ihn, der 1977 erstmals hier
       herkam, fest: „Ich liebe Sulina.“
       
       Immerhin, es legen wieder mehr große Frachtschiffe an. So wie an diesem Tag
       die „Yalissa“ mit ihrem grün gestrichenen Rumpf, dessen Größe die Gebäude
       der Kleinstadt wie Häuschen auf einer Modelleisenbahn aussehen lässt. Wer
       vom Schwarzen Meer in die Donau einfahren will, kommt durch Sulina, wo der
       rumänische Zoll wartet. Nachts tauchen die Lichter das am linken Donauufer
       liegende Sulina in rotes Licht. Gegenüber leuchtet es zur Orientierung der
       Schiffer grün.
       
       Umgeladen auf die flacheren Donauschiffe mit weniger Tiefgang wird später
       in Tulcea oder Galați. Der Chiliaarm bei [2][Ismajil], der nördlichste
       Mündungsarm der Donau ins Schwarze Meer, grenzt an die Ukraine und wird
       derzeit gemieden. Der südliche Mündungsarm bietet den großen Pötten zu
       wenig Tiefgang. Sieben Meter müssen es sein, und die sind es in Sulina,
       auch dank Charles Hartley, der Mitte des 19. Jahrhunderts den Sulinaarm für
       die Schifffahrt ertüchtigen ließ. Hier in der Stadt haben sie dem
       britischen Ingenieur ein Denkmal errichtet. Es steht, natürlich, vor dem
       Gebäude der Donaukommission.
       
       „Seitdem die Europäische Donaukommission hier Hafen- und Quaibauten
       aufführt, erhebt sich Sulina zu einer bedeutenden Hafenstadt, deren
       vielsprachigen Bewohner an Zahl stetig zunehmen.“ So steht es im
       „Donau-Album“, erschienen 1880 in Budapest. Der Fahrplan der ersten
       kaiserlich-königlichen privaten Donaudampfschifffahrtsgesellschaft bot 1910
       dreimal wöchentlich Reisen ab Galaz nach Sulina an, mit Abfahrt in Tulcea
       um ein Uhr mittags. Eine halbe Stunde früher als heute.
       
       „Sulina war damals ein stattlicher Hafen, der zuweilen etwa 100
       Segelschiffen und Dampfern Unterstand bot“, schrieb der österreichische
       Dampfschifffahrtskapitän Ernst Themistokles von Karwinsky über das Jahr
       1861. Er war zeitweise dort stationiert und berichtete: „Das
       Gesellschaftsleben in Sulina spielte sich so ziemlich in zwei Caffeehäusern
       ab, von denen das größere einem Franzosen Mons. Paul, das kleinere, aber
       elegantere, dem Italiener Sign. Gessi gehörte. In den beiden Caffeehäusern
       waren natürlich die böhmischen Harfenistinnen eine Anziehungskraft. Es
       waren dies aus 8–12 Personen bestehende Damenkapellen, denen sich nur zwei
       bis drei männliche Musiker beigesellten.“
       
       Heute kann man in der Rosetti-Straße Gheorghe Comarzan besuchen, der dort
       ein kleines privates Museum unterhält. Zwischen alten Fotos, Karten und
       Schiffsutensilien findet sich eine Liste zur Bevölkerung der Stadt. Demnach
       lebten 1904 knapp 5.000 Menschen in Sulina, darunter 594 Russen und
       Ukrainer, 444 Rumänen, 268 Türken, 211 Österreicher und Ungarn, 173 Juden;
       weiterhin Deutsche, Polen, Franzosen, Briten und einige Nationen mehr.
       Sogar vier Inder hatte es hierher verschlagen. Ein multiethnisches
       Handelszentrum also, ein winziger Klecks New York City an der rumänischen
       Donaumündung zwischen endlosem Schilf. Und das alles wegen einer
       Kommission.
       
       Diese Donaukommission war, hat man gerade die Brille mit den rosa Gläsern
       auf, so etwas wie ein früher Vorläufer der Europäischen Union. Nüchterner
       betrachtet, entpuppt sie sich als Ausbund imperialistischer
       Handelsinteressen. Nach dem Krimkrieg, bei dem eine Koalition aus
       westlichen Staaten und dem Osmanischen Reich 1856 Russland geschlagen
       hatte, bestanden die führenden Mächte auf einer Internationalisierung der
       Donau. Der Fluss sollte dem Handel dienen und schiffbar sein, jenseits
       nationaler Sonderwünsche. So wurde die Europäische Donaukommission
       gegründet, mit Preußen, Frankreich, Großbritannien, Österreich-Ungarn,
       Russland, dem Osmanischen Reich und Sardinien als Unterzeichnerstaaten –
       und Sulina als Sitz der Institution.
       
       Und so wurde aus einem verrufenen Piratennest eine internationale Stadt. Es
       war nicht nur die Kommission, die die Menschen anzog. Vor allem hatten hier
       Schiffsagenten, Schlepperkapitäne und Kaufleute gut zu tun. Als Sulina
       schließlich zum internationalen Freihafen wurde, in dem keine Zölle
       anfielen, blühten die Geschäfte richtig auf – auch die der Schmuggler.
       Zugleich hatten die Großmächte Kriegsschiffe in Sulina stationiert, denn
       friedlich waren die Zeiten auch damals schon nicht. 1857 fiel Sulina von
       Russland wieder an das Osmanische Reich. 1877 bombardierte Russland die
       Stadt, 1878 wurde sie schließlich dem rumänischen Staatsgebiet
       zugeschlagen.
       
       Dampfschiffer Ernst von Karwinsky beschrieb das Leben in der Stadt im Jahr
       1861, als man die Vertiefung der Donau feierte: „Ende August wurde zu Ehren
       der europäischen Donau Commission eine große Festlichkeit veranstaltet.
       Schießen, Glockenläuten, großer Empfang und Festessen im Palais der
       Commission. Gratulationen und Toaste. Abends solenne (festliche, Anm. d.
       Red.) Beleuchtung des Hafens und aller Schiffe. Unter diesen brillierten
       natürlich die anwesenden Kriegsdampfer der verschiedenen Nationen. Die
       Beleuchtung der Hunderte von Schiffen gewährte wohl einen feenhaften
       Anblick. Dazu allseits griechisches Feuer, Raketen und ein entsetzliches
       Geknalle von Pistolen und Flinten in den Straßen, ganz nach orientalischer
       Art, und von Signalkanonen an Bord aller Schiffe.“
       
       Über die Geschäfte schrieb Karwinsky: „Nahezu in jedem Hause Sulinas befand
       sich ein Schiffsmäkler-Geschäft, da sich die Segelschiffe hier zumeist mit
       dem notwendigen Proviant versorgten. Diese Schiffsmäkler waren mit wenigen
       Ausnahmen Griechen. Sobald die Mastspitzen eines anlangenden Segelschiffes
       am Horizonte auftauchten, fuhren 20–30 dieser Händler in ihren Booten dem
       Schiffe entgegen, um sich als Vermittler über alles anzutragen. Das
       anlangende Segelschiff wurde nun noch in See von oft 30
       Schiffsmäkler-Booten umsäumt und jeder der Mäkler trachtete, trotz voller
       Fahrt des Schiffes, als erster an Bord zu gelangen. Wie die Katzen
       kletterten die Leute auf Leinen oder Strickleitern, die sie aufs Schiff
       geworfen hatten, die hohen Bordwände hinauf.“
       
       Heutzutage gibt es keine Segler mehr und schon gar keine Schiffsmäkler, die
       Bordwände erklimmen. Um mehr von den gefährlichen Seiten während der großen
       Zeit zu erfahren, muss man sich auf den Friedhof begeben, draußen vor der
       Stadt. „In Erinnerung an William Webster, Erster Offizier an Bord der S.S.
       Adalia, der edel sein eigenes Leben dafür gab, Margaret Ann Princle vor dem
       Ertrinken zu retten. Sulina, am 21. Mai 1868, 25 Jahre alt.“ So lautet der
       Text auf einem von Dutzenden Grabsteine, so ähnlich lesen sich viele der
       Inschriften. Die Donau muss damals ein gefräßiges Ungeheuer gewesen sein,
       das seine Opfer in die Tiefe zog.
       
       Die Toten in Sulina sind fein säuberlich unterteilt in westliche Europäer
       und Griechisch-Orthodoxe, Rumänen und Lipowaner, letztere sind eine aus der
       russisch-orthodoxen Kirche entsprungene Sekte, die sich der Verfolgung
       durch Umzug ins unwegsame Delta entzog. Ein paar Hundert von ihnen leben
       noch heute in Sulina, ganz im Gegensatz zu Muslimen und Juden, deren Gräber
       sich separat befinden. Der letzte Jude wurde hier 1935 begraben, sagt
       Valentin Lavric. Der Holocaust kam bis nach Sulina, zwölf Opfer aus der
       Stadt sind in Datenbanken verzeichnet.
       
       Keine Gefahr des Ertrinkens nimmt auf sich, wer sich Kapitän Nemmo in
       seinem kleinen Motorboot anvertraut. Auf ruhigem Donauwasser geht es die
       Promenade entlang bis zu deren Abschluss, den das Palais der Kommission
       bildet. Landeinwärts lugt ein weißer Leuchtturm hervor, erbaut noch zu
       osmanischer Zeit. Am gegenüberliegenden Ufer taucht eine weiße Tafel auf,
       darauf eine große Null. Von hier aus wird die Donaustrecke gezählt, zuerst
       in Meilen, später in Kilometern, bis hinauf nach Donaueschingen im
       Schwarzwald: 2.783,4 Kilometer vom Leuchtturm in Sulina entfernt.
       
       Doch auch nach der Kilometertafel Null erstreckt sich der Sulina-Arm breit
       und behäbig in der flachen Landschaft und denkt gar nicht daran, sich allzu
       schnell ins Meer zu ergießen. [3][Die Donau] hat nämlich die Angewohnheit,
       sich durch die mitgeschleppten Sedimente selbst zu verlängern, um ein paar
       Meter jedes Jahr. Deshalb ist der osmanische Leuchtturm längst nutzlos
       geworden. Aber auch ein neuerer, 1887 erbaute Turm ein paar Kilometer
       entfernt steht seit 1922 funktionslos herum. Sieben Kilometer weiter
       befindet sich der dritte, moderne Leuchtturm, und erst hier beginnt
       tatsächlich das Meer.
       
       Nemmos Boot beginnt heftig zu schaukeln. Der Kapitän steuert auf eine
       flache Insel zu, die sich in einer Meeresbucht gebildet hat. Hunderte und
       Tausende weiße Tupfer sind darauf von Weitem zu erkennen. Das Boot dreht
       bei, und nun sieht man es: Es sind Vögel. Sie kreischen, manche fliegen in
       engen Kurven über dem Meer, andere hocken im Sand. Einige von ihnen haben
       auffallend große und ausladende Schnäbel. Es sind Pelikane, die mit ihren
       Riesenschnäbeln Fische fangen. Tausende von ihnen leben im von Menschen
       kaum besiedelten Donaudelta, einem Naturparadies, das seit 1990 unter
       strengem Schutz steht. Viele seltene Tierarten haben sich hierher
       zurückgezogen.
       
       Nemmo erzählt, dass er früher einmal beim rumänischen Militär gewesen sei.
       So kam er nach Sulina. Vor mehr als 20 Jahren habe er abgemustert. Jetzt,
       grauhaarig geworden, schippert er mit seinem Boot Touristen durch das
       Delta. Seine Frau hilft ihm nach der Rückkehr beim Vertäuen des Boots am
       Pier. Auch viele der Fischer haben umgesattelt, seitdem der Fang stärker
       reglementiert worden ist und der berühmte Stör streng geschützt wird.
       Früher war das Delta überfischt und drohte, zu einer Wüste aus Wasser zu
       werden. Heute ist es munter wie ein junger Weißfisch.
       
       Die Fischbestände haben sich erholt, die Fischerei liegt darnieder: Auf der
       Fahrt zur Donaumündung ist Nemmos Boot an den leeren
       Fischvermarktungshallen vorbeigekommen. Der Fisch muss heute zentral in der
       Bezirkshauptstadt Tulcea gehandelt werden. Selbst die Erlaubnis zum Fang
       von drei Kilogramm Fisch pro Woche für den Eigenbedarf wurde kassiert,
       nicht gerade zur Freude der Einheimischen. „Nach der Revolution ging es
       abwärts“, sagt Lehrer Lavric. „Die Leute haben keine Erlaubnis für neue
       Betriebe erhalten, weil diese die Natur schädigen würden“, klagt er. „Der
       Umweltschutz ist ein Problem.“ Viele Menschen seien fortgezogen. Die
       Arbeitslosigkeit in Sulina ist hoch, sie liegt bei um die 40 Prozent.
       
       Der Fotograf Liviu Simioncencu erinnert sich, dass es viel Platz in Sulina
       gab, als er dort aufwuchs. Einige Gebäude waren im Zweiten Weltkrieg durch
       zwei sowjetische Luftangriffe zerstört worden, sagt er. „Man konnte überall
       hindurchsehen und die Häuser aus allen Richtungen betrachten.“ Manche der
       Löcher seien unter Ceaușescu mit einfallslosen Wohnblöcken gestopft worden.
       Doch immer noch wächst auf vielen Grundstücken das Gras. Leer stehende alte
       Häuser mit ihren türkischen Balkonen und blinden Fensterscheiben sehen so
       aus, als könnten sie kaum dem nächsten Sturm standhalten. Der Turm der
       griechisch-orthodoxen Kirche St. Nikolas steht gefährlich schief, das ganze
       Gebäude droht zu zerfallen.
       
       Und doch steht Sulina nicht still. Menschen wie Kapitän Nemmo sind die
       Pioniere einer neuen Zeit. Viele Einwohner setzen auf sanften Tourismus.
       Vogelfreunde statt Fischkonserven sollen die Stadt wieder flottmachen.
       Schon sind eine Reihe Restaurants und Pensionen an der Donaupromenade
       entstanden, ein Reisebüro bietet Fahrten auf den endlos vielen
       schilfgesäumten Wasserarmen des Deltas an. Auf großen Tafeln werben
       einstige Fischer für ihre Bootstouren. Im Juli und August kämen schon bis
       zu 3.000 Leute in die Stadt, sagt Lehrer Lavric.
       
       Direkt an der Promenade steht das Hotel Camberi in allerbester Lage. Doch
       die Fensterhöhlen sind schwarz und leer, das Mauerwerk steht nackt da. Es
       habe einen Investor gegeben, heißt es, doch dann seien Probleme
       aufgetaucht. „Es kamen viele europäische Gelder für Restaurierungen“,
       berichtet Fotograf Liviu Simioncencu. „Doch hier ist nichts angekommen. Die
       Leute denken, dass die Stadt Galați das ganze Geld kassiert hat.“ Er wirft
       der Bezirksregierung in Tulcea vor, die Entwicklung zu blockieren. „Die
       wollen nicht, dass in Sulina etwas entsteht.“ Einige große Tafeln künden in
       Sulina von durch die EU geförderten Projekte. An manchen von ihnen nagt der
       Rost.
       
       Nein, so wie früher wird Sulina nie mehr werden. Aber vielleicht viel
       besser, grüner? Ganz einverstanden ist der Lehrer Valentin Lavric nicht mit
       der Erklärung, dass man nach Sulina gekommen sei, weil hier das Ende
       Europas ist. „Ende?“, fragt er. „Schau dir die Kilometrierung der Donau an.
       Hier ist der Anfang.“
       
       Die Zitate von Ernst von Karwinsky entnahmen wir dem Buch „Erinnerungen
       eines Donauschiffers“, herausgegeben vom Museumsverein
       Kornneuburg/Österreich.
       
       10 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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