# taz.de -- Die Wahrheit: Kartenschulden sind Ehrenschulden
       
       > Zwei Ausstellungen und Bücher feiern tausendfach den Dichter, Zeichner
       > und Postkartenversender F.W. Bernstein und seine Komische Kunst der
       > Ansichten.
       
       Es gibt sie noch, aber sie sind seltener geworden. 1903 wurden in
       Deutschland rund 1,2 Milliarden Ansichtskarten befördert, 1954 waren es
       noch 920 Millionen. Heutzutage sind es höchstens noch 130 Millionen. Die
       Menschen verschicken lieber Selfies oder albern tanzende Weihnachtsmänner,
       aber die kann man sich nicht auf den Kaminsims stellen oder an die Wand
       hängen. Erfunden wurde die kleine Karte von den Briten, was logisch ist,
       haben sie doch auch die Briefmarke erfunden.
       
       Einer der fleißigsten Kartenschreiber aller Zeiten war F.W. Bernstein. Rund
       15.000 Stück hat er im Lauf seines Lebens verschickt. Aber es waren eben
       keine gekauften Karten von irgendwelchen Sehenswürdigkeiten, sondern selbst
       gezeichnete. Was das an Porto gekostet hat! Und er war streng: Wer eine
       Karte bekam, hatte „Karten-Schulden“ und musste binnen drei Tagen mit einer
       selbst gezeichneten Karte antworten.
       
       Eigentlich müsste ihm die Bundespost ein Denkmal setzen, stattdessen hat
       ihm die Frankfurter Caricatura ein solches gestiftet. Es steht am
       Weckmarkt, ist aus Bronze und zeigt einen lässigen Elch. Schließlich hat
       Fritz Weigle, wie F.W. Bernstein mit bürgerlichem Namen hieß, den allseits
       bekannten Zweizeiler erfunden: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren
       früher selber welche.“
       
       Entstanden ist der Satz bei einer Autofahrt mit F. K. Waechter und Robert
       Gernhardt in Frankreich. Die ersten Versuche – „Die klügsten Kritiker des
       Tieres / Sind wir es?“ oder „Die wahren Kritiker der Wanzen / Sind selber
       mies im großen Ganzen“ – fielen durch. Als der Elch geboren wurde, lieferte
       Hans Traxler die berühmte Zeichnung eines Elchs mit Hut und Trenchcoat, wie
       er auf Plakaten in allen Wohngemeinschaften hing und nun vor der Caricatura
       steht.
       
       ## Hunderte Selbstporträts
       
       Die Caricatura zeigt zurzeit eine kleine Auswahl aus Hunderten von
       Selbstporträts: „F.W. Bernstein – Postkarten vom Ich.“ Eine ganze
       Ausstellung mit Selbstbildnissen? Klingt langweilig, ist es aber ganz und
       gar nicht. „Diese Ichs des F.W. Bernstein sind nämlich auch wir alle“,
       schreibt Andreas Platthaus im Vorwort zum Buch, das von Henner Drescher
       herausgegeben wurde und auf dem die Ausstellung basiert. „Und so ist dieses
       Selbstporträt der Menschheit eines mit Schnauzbart – um das markanteste
       Element zu nennen, das wir in dem Spiegel sehen, den uns F.W. Bernstein
       vorgezeichnet hat.“
       
       Und weil es so viele Ansichtskarten von ihm gibt, reichen sie auch locker
       für zwei Ausstellungen. In Berlin, in der Galerie 40, eröffnet am kommenden
       Sonntag „Bäumchen an B.“, eine Ausstellung von fast 1.000 Postkarten, die
       F.W. Bernstein an Bärbel Scherhag geschrieben hat. Das Thema ist hier nicht
       das Ich, sondern es sind Bäumchenbilder. Auch hierzu gibt es ein Buch,
       passend im Ansichtskartenformat.
       
       Fritz Weigle kam 1938 in Göppingen auf die Welt. Rund ein
       Vierteljahrhundert später wurde er beim Satiremagazin Pardon angeheuert und
       Mitbegründer der Neuen Frankfurter Schule, zu der dann alles stieß, was in
       der satirischen Szene Rang und Namen hatte.
       
       ## Gaben zum Dank
       
       Weigle verließ Pardon nach zwei Jahren und steuerte eine pädagogische
       Karriere an, die in der Ernennung zum Professor für Karikatur und
       Bildgeschichte an der Hochschule der Künste in Berlin gipfelte. Dort haben
       taz-Zeichner Tom und ich ihn einmal besucht. Wir wollten uns mit Wein und
       Schokolade für die beiden Vorworte bedanken, die er für unsere Bücher
       geschrieben hatte. Er bat uns, die Gaben während seines Seminars in die
       Hochschule zu bringen, weil er „die Studentinnen beeindrucken“ wollte.
       Während wir uns mit denen unterhielten, zeichnete Fritz ein Porträt von mir
       und schenkte es mir, denn es war mein Geburtstag. Es hängt jetzt neben den
       Ansichtskarten, die er mir geschickt hat.
       
       An dem Haus in der Südendstraße in Berlin, wo Fritz mit seiner Frau Sabine
       seit 1985 lebte, hat der Senat eine Gedenktafel angebracht, allerdings
       nicht im Ansichtskartenformat. Und ein Sprecher der Post sagte kürzlich
       über den drohenden Ansichtskartenuntergang: „Wir sind noch ein ganzes Stück
       vom Aussterben entfernt“, denn die Postkarte habe „eine treue
       Fan-Gemeinde.“ Ihr größter Fan starb kurz vor Weihnachten 2018.
       
       12 Jun 2024
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ralf Sotscheck
       
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