# taz.de -- Bündnis Sahra Wagenknecht vor der Wahl: Eine Gleichung mit Unbekannten
       
       > Die Europawahl wird zeigen: Ist Sahra Wagenknechts Partei ein medialer
       > Hype oder wird sie zum politischen Faktor?
       
 (IMG) Bild: Allgegenwärtige Namensgeberin: Europawahlplakate vom Bündnis Sahra Wagenknecht
       
       TEMPLIN DÜSSELDORF taz | Das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ ist derzeit die
       große Unbekannte in der deutschen Politik. Kann es ein Mittel gegen die AfD
       sein? Ist es eine neoautoritäre Pro-Putin-Partei? Eine Art bundesdeutsche
       Version der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung? Ein One-Hit-Wonder wie die
       Piratenpartei, steiler Aufstieg, jäher Fall? Oder etwas ganz anderes?
       
       Detlef Tabbert sitzt in seinem Bürgermeisterbüro im Templiner Rathaus und
       sagt: „taz lese ich auch manchmal.“ Er findet es „toll, dass sich eine
       liberale, linke Zeitung so erfolgreich gegen Konzerne behauptet“. Tabbert,
       seit 2010 in der Linkspartei, war gerade im Stadtwald, das brandenburgische
       Templin ist zur Waldhauptstadt gekürt worden. Schöner Termin, gute Bilder.
       Besser als wenn in der Zeitung steht, dass hier „Neonazis auftreten“, sagt
       Tabbert. Und gut für den Tourismus.
       
       Templin ist Kurort, 16.000 Einwohner, viel Wasser, historischer Stadtkern.
       Tabbert ist seit 14 Jahren Bürgermeister. Die letzte Wahl gewann er mit
       über 60 Prozent. Der ganze Stolz ist der öffentliche Nahverkehr. Das Ticket
       kostet 44 Euro im Jahr, für eine Fläche größer als München, sagt er.
       Günstig und gute Taktung. Templin [1][hat zehn Mal so viel Fahrgäste wie
       vergleichbare Städte]. Und erzeugt das Gros der Energie, die die Stadt
       verbraucht, mit Erneuerbaren. Die Klimapolitik der Ampel findet Tabbert
       hingegen „ideologisch verblendet“. Man müsse auf Anreize setzen, „nicht auf
       Verbote“ wie beim Aus für Verbrenner.
       
       Tabbert ist gerade aus der Linkspartei aus- und dem BSW beigetreten. Warum?
       „Die Linkspartei kümmert sich zu viel um Minderheiten und zu wenig um die
       arbeitende Bevölkerung, um Handwerker und Krankenschwestern“. Ist das nicht
       ungerecht? Die Linke versucht doch beides zu verbinden. Ja, sagt Tabbert,
       dem Eiferertum fern liegt und der als Kommunalpolitiker ein Mann des
       Ausgleichs ist. Trotzdem: Seine Ex-Genossen würden „das klare Wort scheuen“
       und „wissenschaftlich verklausuliert“ am Volk vorbeireden. Diese Gefahr ist
       bei der BSW-Drei-Worte-Agitation – ein Wahlplakat fragt: „Krieg oder
       Frieden?“ – in der Tat gebannt.
       
       Das Ländliche sieht Bürgermeister Tabbert in der Linkspartei ignoriert.
       „Die wollen die Grünen links überholen.“ Man brauche auf dem Land eben das
       Auto, und neben Bio- auch konventionelle Landwirtschaft. Das wolle die
       Großstadtpartei Die Linke nicht wahrhaben.
       
       ## Die alten Schemata versagen
       
       Zu Wagenknecht sind aus der Linken-Bundestagsfraktion Vertreter des linken
       Flügels gewechselt, wie Sevim Dağdelen, Andrej Hunko und Amira Mohamed Ali.
       Aber die Schemata Links-Rechts, Fundi-Reformer greifen hier nicht. Vor Ort
       wechseln zwischen Templin und Dresden eher handfeste Realpolitiker zum BSW,
       die früher zum Lager der Ost-Reformer gehörten.
       
       Dabei ist schon erstaunlich, wie locker dem freundlichen Bürgermeister
       Tabbert Sätze über die Lippen gehen, die man eher in CSU-Bierzelten
       vermutet. Er redet von „einem gesunden Stolz auf das eigene Land“ und
       findet es okay, die Farben der deutschen Fahne am Revers zu tragen. Man
       dürfe „unsere nationalen Symbole nicht den Rechten überlassen“. Das Neue am
       BSW sei eben, „soziale Orientierung und konservative Grundwerte“ zu
       verbinden sowie „soziale Marktwirtschaft und vernünftiges
       Heimatbewusstsein“. Eine Formel, die rechte Unionspolitiker aus vollem
       Herzen begrüßen dürften.
       
       Tabbert glaubt, dass das BSW damit eine Lücke in der Parteienlandschaft
       füllt. Man sei für „Arbeitnehmer, wirtschaftliche Entwicklung, eine
       vernünftige Migrations- und Friedenspolitik“. Als Anti-AfD-Kraft versteht
       er die Partei nur nebenbei. Dazu passen die Ergebnisse [2][bei der
       Kommunalwahl in Thüringen, wo sie in einzelnen Städten und Kreisen antrat].
       Die BSW-Erfolge gingen dort mehr zu Lasten der Linkspartei als der AfD.
       
       Zum links-rechten Politikmix passt, dass Tabbert zackig die schnelle und
       konsequente Abschiebung von kriminellen Ausländern fordert, andererseits
       das Arbeitsverbot für Flüchtlinge kritisiert. In Templin leben derzeit 150
       Geflüchtete. Die Integration „funktioniert recht gut“, sagt er. Ein großes
       Hotel würde gern mehr Leute einstellen. Tabbert ist überzeugt, dass Arbeit
       der Integration hilft und es fatal ist, wenn Flüchtlinge jahrelang in
       Asylheimen an die Decke gucken. Man dürfe „bei aller Konsequenz die
       Humanität nicht vergessen“, sagt er.
       
       ## Die Haltung zu Hartz IV und Bürgergeld
       
       Tabbert stammt aus Templin, hat in Freiburg Finanzwirtschaft studiert und
       war, bevor er Bürgermeister wurde, Unternehmer. Interessant ist seine
       Haltung zum Bürgergeld. Wer Hilfe braucht, müsse genug bekommen, um
       vernünftig zu leben. „Aber wer in der Hängematte liegen will, muss vom
       Jobcenter sanktioniert werden können.“ In Templin gebe es hundert Jüngere,
       die Bürgergeld bekommen. Die Therme Templin sucht vergeblich Bademeister.
       Das sei „leichte Arbeit“. Aber niemand will. Da müsse man mit negativen
       Anreizen nachhelfen.
       
       Dass Sanktionen dazu führen, dass Jüngere oft jeden Kontakt zum Jobcenter
       abbrechen, beeindruckt Tabbert nicht. Der Widerstand gegen Hartz IV gehört
       zur DNA der Linkspartei. Doch der BSW-Mann sieht das anders. „Wer fit ist
       und keine Lust hat zu arbeiten, muss sanktioniert werden. Das habe ich
       schon immer so gesehen.“
       
       Keine Position ist neu, nur die Mixtur. Bei Integration und
       Flüchtlingspolitik klingt manches nach CSU, anderes nach Grünen.
       Außenpolitisch hat Tabbert viel Verständnis für Russland und unfreundliche
       Worte für die Grünen. Beim Bürgergeld klingt er wie ein rechter
       Sozialdemokrat.
       
       Also genau so wie Thomas Geisel. Der war bis 2020 SPD-Oberbürgermeister in
       Düsseldorf und ein vehementer Anhänger von Schröders Agenda 2010. Die habe
       die Arbeitslosigkeit gesenkt und Deutschland auf Wachstumskurs gebracht
       wurde, schrieb er 2023, und kritisierte das Bürgergeld, das Hartz IV
       ersetzte. Es dürfe keinen Anreiz geben, „sich staatlich alimentieren zu
       lassen, obwohl man grundsätzlich in der Lage wäre, selbst zum eigenen
       Unterhalt beizutragen“.
       
       „Ich bin eben Verfechter des Leistungsprinzips“, sagt Geisel heute. Er
       wechselte im Januar zum BSW und ist jetzt Spitzenkandidat für die
       Europawahl. Die SPD nahm seinen Abgang kühl hin. „Ich vermute, er hat
       Langeweile und braucht etwas zu tun“, kommentierte der
       nordrhein-westfälische SPD-Landtagsfraktionschef Jochen Ott lakonisch.
       
       ## Das Thema Frieden im Wahlkampf
       
       Am Dienstagnachmittag dieser Woche steht Geisel auf dem Schadowplatz im
       Herzen von Düsseldorf auf einer Bühne und wirbt für seine neue Partei.
       Gekommen sind rund 300 Leute, viele Weißhaarige, auch Jüngere, wenige
       zwischen 30 und 50. Mit seiner rechtssozialdemokratischen Haltung steht
       Geisel beim BSW nicht allein.
       
       Auch Sahra Wagenknecht [3][hat vor einer Erhöhung des Bürgergelds gewarnt,
       „so lange Missbrauch nicht stärker eingedämmt wird“]. Das Lied vom
       massenhaften Missbrauch singen sonst Union und FDP. Dass Geisel Hartz IV
       verteidigt hat, wissen manche UnterstützerInnen nicht: „Was, echt?“, fragt
       die 63-jährige Bettina, die extra aus Bochum gekommen ist und
       Erwerbsminderungsrente und Wohngeld bezieht.
       
       Geisel, als Redner ein Politprofi, spürt schnell welches Thema besser
       zündet: Frieden. Es sei „völlig klar“, dass Putin einen
       „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ führe, der „durch nichts zu
       rechtfertigen“ sei. Dann kommt das große Aber.
       
       Der „Überbietungswettbewerb für noch mehr Aufrüstung“ sei unerträglich. Die
       FDP-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann träume vom „Endsieg in
       der Ukraine“. Das Publikum schwenkt Fahnen mit der weißen Friedenstaube auf
       blauem Grund. „Waffenexporte stoppen! Verhandeln jetzt!“ steht darauf.
       Angefeuert vom Applaus legt Geisel nach. Der Grüne Anton Hofreiter, den er
       „Panzer-Toni“ nennt, wolle mit deutschen Waffen Russland angreifen. „Wir
       wollen schießen, schießen, schießen, den Krieg immer weiterführen“, klagt
       der BSW-Spitzenmann.
       
       Wer war noch gleich Aggressor, wer Opfer? Bei einem Gespräch einen Tag
       später versichert Geisel, er sei kein „Putin-Versteher“. „Klar zahlt das
       Thema Frieden bei uns ein“, sagt er in einem Café in Düsseldorfs
       Innenstadt. Um Russland „zur Aufnahme von Verhandlungen zu motivieren,
       sollte für diesen Fall der sofortige Stopp aller Rüstungsexporte in die
       Ukraine angeboten werden“, heißt es im BSW-Europawahlprogramm, an dem
       Geisel mitgearbeitet hat. Der Ukraine solle ohne Gesprächsbereitschaft der
       EU-Geldhahn zugedreht werden. Vor Verhandlungen müsse aber ein
       Waffenstillstand her, räumt Geisel ein. Beide Seiten müssten ihr Militär
       kilometerweit von der Front zurückzuziehen. Auf dem Schadowplatz hat das
       friedensbewegte Publikum von solchen Details nichts gehört.
       
       ## Die EU als Feindbild
       
       Das BSW setzt auf Angstbewirtschaftung in Sachen Krieg und Frieden,
       Elitenverachtung in hohen (Wagenknecht) oder niedrigen Dosen (Tabbert und
       Geisel) und auf harte Töne bei Migration. Eine populistische Partei,
       allerdings ohne krassen Extremismus. Daneben gibt es noch ein
       unscheinbares, aber wirksames Motiv. Ex-OB Geisel skizziert Brüssel als
       „entrückte Behörde“ und klagt über einen europäischen „Superstaat“, der
       immer mehr entscheide, was vor Ort besser aufgehoben sei. Es ist ein
       Plädoyer gegen Zentralismus und für die Macht der Kommunen.
       
       Auch Tabbert klagt über die Umwelt- und Wirtschaftsbürokratie in Potsdam
       mit ähnlicher Verve wie über arbeitsunwillige Jungmänner. Für alles brauche
       man teure Gutachter und externe Berater. „Anstatt die Handlungsfähigkeit
       der Kommunen zu erhöhen, nimmt die Kontrollitis verrückte Züge an.“ Es ist
       ein scheinbar unideologischer, vernünftiger Widerstand gegen eine als
       anonym wahrgenommene Machtstruktur, und spiegelt die Stimmung eines
       Kleinbürgertums, dass sich fremdbestimmt fühlt. Dieses Lob der
       Subsidarität, eine Idee der katholische Soziallehre, mischt sich mit
       preußischem Arbeitsethos und dosiertem Nationalstolz, der Zugehörigkeit in
       einer unübersichtlichen Welt verspricht. All das wird überstrahlt vom Star
       an der Spitze.
       
       Ist das BSW ein autoritäres Modell? Eine Chefin, sonst nur Bauern? „Wir
       sind einfach gut organisiert“, findet Bürgermeister Tabbert. Macron habe
       in Frankreich ja auch eine Partei um sich gruppiert. Die Fixierung auf
       Wagenknecht hält Tabbert für nützlich für die Startphase. „Wir werden eine
       ganz normale Partei.“ Ausgegoren wirkt all das nicht. Die Europawahl wird
       erstmals zeigen, ob das BSW eher ein mediales Umfragephänomen ist oder eine
       ernstzunehmende Kraft werden kann. In Umfragen steht die Partei bei 6
       Prozent. Am Abend des 9. Juni wird es ernst.
       
       1 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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