# taz.de -- Ausstellung „Unter Nackten“ in Hannover: Raus aus den steinernen Städten
       
       > Hannover war einmal Hochburg der lebensreformerisch aufgeladenen
       > Freikörperkultur. Davon erzählt eine Ausstellung auf Schloss
       > Herrenhausen.
       
 (IMG) Bild: Grüße aus dem Licht- und Luftbad: Damen-Abteilung als Postkartenmotiv, 1907
       
       Es ist nicht ganz einfach: Ins 2013 rekonstruierten Schloss
       Hannover-Herrenhausen gelangt man nicht über das Mittelportal im
       „Ehrenhof“, sondern über kleine Eckpavillons.
       
       Will man nun die Sonderausstellung „Unter Nackten“ besuchen, muss man erst
       einmal die Dauerausstellungen bezwingen: Thematische Inszenierungen wie
       „Barocke Welten“ oder „Todesnähe und Überleben“ zum 30-jährigen Krieg
       warten dort, eine Treppe führt hinab in einen unterirdischen
       Verbindungsgang, eine zweite Treppe wieder hinauf zu einem engen Einschlupf
       in den Westflügel. Dort dann geht es noch bis Anfang September um die
       Freikörperkultur zwischen 1890 und 1970 im Allgemeinen – und ihre spezielle
       Ausprägung in Hannover.
       
       Die „Freikörperkultur“, erfährt man im Einstiegskapitel, war eine von
       vielen Reaktionen auf die desaströsen hygienischen, medizinischen aber auch
       sozialen Missstände des ausgehenden 19. Jahrhunderts: Die Massenbehausung
       in den Mietskasernen der wachsenden Großstädte hatte nicht nur
       gesundheitliche Effekte wie Tuberkulose oder Rachitis zur Folge. Sondern
       auch den sittlich moralischen Verfall – zumindest empfanden dies
       Zeitgenoss:innen mit ausgeprägt erzieherischem Sendungsbewusstsein.
       
       [1][Licht, Luft und Sonne wurden zu neuen Maximen] in Architektur und
       durchgrüntem Städtebau, Lebensreformbewegungen propagierten neben allerhand
       Esoterischem auch Gymnastik, Turnen und Wandern zur Gesunderhaltung – sowie
       die „Nacktkultur“ im Freien. Die Natur galt als das Vollkommene, Reine und
       Schöne, das Gegenmodell zur krank machend steinernen Großstadt.
       
       „Nackt“ war aber erst einmal kein klar definierter Zustand. Schon eine
       Tänzerin wie Isadora Duncan, die um 1900, schicklich in eine Tunica
       gewandet, jedoch ohne Ballettschuhe und Strümpfe auftrat, galt als nackt
       und ein Skandal.
       
       Lange wurde die Freikörperkultur, kurz [2][FKK], kriminalisiert. Schriften
       wurden als Pornografie geahndet, in Westdeutschland sogar bis 1950, und
       Vereine juristisch verfolgt. Gleichwohl wuchs die Bewegung: Gab es um 1913
       in Deutschland rund 95 Bünde lebensreformerischer Bewegungen mit 160.000
       Mitgliedern, waren es in der Weimarer Republik dann 100.000 Vereine und
       zwei Millionen Nacktbadefans. Sie beriefen sich auf Adam und Eva, nackte
       antike Heroenkörper oder immer wieder das gesunde „Wilde“: Der römische
       Chronist Tacitus und sein Staunen über nackt aufwachsende Germanenkinder
       mussten ebenso herhalten wie völkisches und antisemitisches Gedankengut.
       
       Hannover war und ist eine Hochburg der „Naturisten“, sie veranstalteten in
       den 1950er-Jahren Kongresse mit weltweitem Zuspruch. In den
       Zwischenkriegsjahren bestanden hier 45 Vereinigungen nicht nur mit sittlich
       blickdicht umwehrten Badeplätzen an der Ihme: Die Freikörper-Freund:innen
       traten auch als Kneipp-Jünger:innen in Erscheinung, gründeten Bünde gegen
       den Alkohol- und Tabakkonsum sowie für eine vegetarische Ernährung,
       Reformwaren- und Gasthäuser; sie warben aber auch, in Form der
       Siedlergemeinschaft Wittekind von 1919, „zur Hebung deutscher Volkskraft“.
       
       Das NS-Regime konnte dann nicht viel anfangen mit dem recht anarchisch
       diversifizierten Freikörperkult. Zwar teilte man das Ideal des durch
       Bewegung an der frischen Luft gestählten Menschenkörpers, die FKK-Vereine
       der Weimarer Zeit aber wurden verboten oder gleichgeschaltet: zunächst als
       „Kampfring für völkische Freikörperkultur“, ab 1935, auch auf Geheiß der
       SS, im „Bund für Leibeszucht“.
       
       Nach 1945 feierte die Freikörperkultur mancherorts fröhliche Urstände, auch
       in Österreich, Frankreich, der Schweiz – mit nacktem Skifahren –, an der
       jugoslawischen Adria oder in der DDR: Hier wurde Nacktbaden am Ostseestrand
       zu einer wahren, unorganisierten Massenbewegung.
       
       Aber was machte man sonst noch nackt? Der Literat Klaus Mann, der ab 1922
       ein Jahr in der wohl damals schon pädophil übergriffigen Odenwaldschule
       verbrachte, berichtete eher angewidert vom dortigen „[3][Nacktsport]“. Ein
       „Lichtschulheim“ im Lüneburger Land praktizierte gar den gesamten
       Unterricht unbekleidet. Unbestritten sind therapeutische Erfolge der Luft-
       und Sonnenexposition des menschlichen Körpers, wie etwa ab 1900 im
       Sanatorium Dr. Barner in Braunlage, das noch weitgehend im Originalzustand
       erhalten ist.
       
       Eine nachgebaute dreiseitig offene Lufthütte nach dem als „Sonnendoktor“
       bezeichneten Schweizer Arnold Rikli beschließt in Hannover den Rundgang.
       Hier erfährt man von einem illustren Patienten: [4][Franz Kafka] verbrachte
       im Juli 1912 drei Wochen in solch einer Hütte, als er sich im
       Naturheilsanatorium „Jungborn“ im Nordostharz einer Kur unterzog. Er höre
       nachts immerzu Kaninchen und Vögel, vermerkte er im Tagebuch. Eine leichte
       Übelkeit überkam ihn angesichts der Nackten: „Ihr Laufen macht es nicht
       besser“. Gar nicht gefielen ihm „alte Herren, die nackt über Heuhaufen
       springen“. Trotzdem: Seine Schreibkrise überwand der Schriftsteller.
       
       8 Jul 2024
       
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