# taz.de -- Frankreich vor den Wahlen: Ein Bündnis gegen Le Pen
       
       > In Dreux feierte Marine Le Pens Partei früher Erfolge – bei den
       > Europawahlen siegte hier aber die Linke. Was lässt sich von der
       > Kleinstadt lernen?
       
 (IMG) Bild: Agnès Cueille von La France Insoumise macht in Dreux Wahlkampf für die Kandidatin einer anderen Partei
       
       DREUX taz | Sie kommt! Die Flamme! Zu uns nach Dreux! An den Schaufenstern
       der Geschäfte im Stadtzentrum hat man Aufkleber mit Flatterbändern
       angebracht. Überall hängen Zettel mit dem Olympialogo und der Ankündigung:
       Am 7. Juli ist es so weit, dann kommt sie hier vorbei, dann ist die Fackel
       nur noch 100 Kilometer westlich von Paris entfernt.
       
       Hier liegt [1][Dreux], eine 30.000-Einwohnerstadt, ein bisschen im
       Nirgendwo, mit einem pittoreskem Stadtkern mit alten Fachwerkhäuschen und
       einem hübschen Rathaus. Sonst aber eher unscheinbar. An diesem Wochentag
       wirkt es ziemlich verschlafen. Auf den Caféterrassen, die gerade noch im
       Schatten liegen, sind nur wenige Tische besetzt. Eine alte Frau huscht
       hinüber zum Friseur, das Karussell wartet auf Kundschaft nach Schulschluss.
       
       Ein paar Kilometer weiter am Stadtrand herrscht mehr Trubel. Es ist
       Markttag auf der Place de 8 mai 1945. Viele Plätze und Straßen in
       Frankreich tragen den Namen jenes Tages, an dem Nazi-Deutschland
       kapitulierte und der Faschismus besiegt wurde.
       
       In einem Café sitzen Grüppchen von Leuten und diskutieren, die Stimmung ist
       gedämpft. Alles redet über den Unfall am Vortag, ein Zusammenstoß von zwei
       Autos mit vier Verletzten. Fast könnte man vergessen, dass Dreux und ganz
       Frankreich gerade politische Schicksalstage durchleben. Die Rechtsextremen
       des Rassemblement National (RN) wollen an die Macht und in der Geschichte
       der Fünften Republik waren sie ihrem Ziel noch nie so nah wie jetzt.
       
       Nach den Europawahlen am 9. Juni und einer krachenden Niederlage für sein
       Parteienbündnis [2][hatte Präsident Emmanuel Macron das ganze Land noch am
       selben Abend mit der Ankündigung von Blitz-Neuwahlen überrascht]. Am 30.
       Juni ist der erste Wahlgang, am 7. Juli der zweite, bei dem in einer
       Stichwahl entschieden wird, welche Kandidat:innen in die Assemblée
       Nationale einziehen.
       
       Wenn nach der zweiten Wahlrunde der RN als klarer Sieger hervorginge,
       könnte die Partei von Marine Le Pen die Regierung stellen. „Wir stehen
       bereit, wir können übernehmen“, hatte Le Pen schon am Abend der
       Europawahlen nach dem klaren Sieg des RN-Kandidaten Jordan Bardella
       verkündet.
       
       ## „Politik ist nicht so meins“
       
       Ob er sich diesen 28-jährigen Bardella denn als Premierminister vorstellen
       könnte? Der Fischhändler blickt bei der Frage kaum von seinem
       Schuppenmesser auf: „Politik ist nicht so meins. Ich find den ganz okay,
       aber ich geh eh nicht zu den Wahlen.“ Auch drei ältere Frauen mit
       vollgepackten Beuteln winken ab: „Gehen Sie mal zu meinen Mann dahinten,
       der macht das bei uns, das Politische“, sagt eine von ihnen.
       
       Ihr Mann sitzt auf einem weißen Plastikstuhl, trinkt einen Minztee und
       diskutiert mit seinen Freunden. Unter ihnen Cuneyt Polat, 47, von Beruf
       Maurer. Er hat türkische Wurzeln, ein Teil seiner Familie lebt in
       Stuttgart. „Das fährt hier gegen den Baum. Das gibt Bürgerkrieg“, sagt er
       ohne Umschweife. Wenn Le Pen an die Macht kommt, will Cuneyt Polat das Land
       verlassen. „Ganz ehrlich, dann bin ich weg, bevor die mich wegschicken.“
       
       Dieses Szenario will Agnès Cueille verhindern. Sie verteilt ein paar Meter
       weiter frisch gedruckte Flyer des Front Populaire. Cueille ist
       Lokalpolitikerin der linksradikalen Partei La France Insoumise (LFI), die
       hier in Dreux bei den Europawahlen stärkste Kraft wurde.
       
       Nach der Neuwahlankündigung von Macron [3][raufte sich die notorisch
       zerstrittene französische Linke sehr schnell zu einem Wahlbündnis aus
       Sozialdemokraten, Grünen, Kommunisten und LFI zusammen]. Die Parteien
       sprachen sich ab, in welchem Wahlbezirk jeweils nur ein Kandidat des
       Bündnisses antritt, um im französischen Mehrheitswahlrecht möglichst große
       Chancen auf ein Mandat zu haben.
       
       Und so ist Agnès Cueille mit ihren Mitstreiter:innen gekommen, um auf
       dem Markt Wahlkampf für eine Kandidatin der Parti Socialist zu machen, die
       für das neue Linksbündnis ins Rennen geht.
       
       Viele der Anwohner:innen aus den umliegenden Sozialbauten begrüßt sie
       mit Wangenküsschen. Sie ist in Dreux aufgewachsen, zur Schule gegangen, hat
       später selbst an einer Schule unterrichtet. Die 60-Jährige kennt so
       ziemlich jeden Drouais und jede Drouaise, wie man die Einwohner:innen
       hier nennt. Agnès Cueille und ihr Mann José waren immer links. Sie feierten
       1981 frenetisch den Sieg von Mitterrand und fühlten sich später von seiner
       liberalen Politik verraten. Sie setzten 2012 all ihre Hoffnungen auf
       François Hollande und wurden bitter enttäuscht.
       
       Seitdem stehen sie an der Seite von [4][Jean-Luc Mélenchon], der – in ihren
       Augen – einzige noch wirklich linke Politiker. Für dessen
       Europa-Spitzenkandidatin Manon Aubry hatten José und Agnès Cueille
       wochenlang Wahlkampf gemacht. Mit der immer gleichen Botschaft: „Was Macron
       und der RN im Sinn haben, das richtet sich gegen uns, gegen unsere
       Freiheit, gegen unsere Gleichheit und Brüderlichkeit. Das ist nicht die
       Gesellschaft, in der wir leben wollen.“
       
       Am Abend der Europawahl sitzt Agnès Cueille im Wahlbüro und schluckt bei
       dem ernüchternden Ergebnis ihrer Spitzenkandidatin Aubry. Sie erreicht
       landesweit 9,9 Prozent der Stimmen. Ein vierter Platz, hinter der Parti
       Socialiste, die überraschend gut abschneidet. Auf dem Fernsehbildschirm
       erscheint eine Landkarte, die das Ergebnis darstellt. Sie ist nahezu
       vollständig braun gefärbt, dort wo der RN vorne liegt. Die wenigen roten
       Punkte sind kaum auszumachen.
       
       ## Ein roter Punkt in einem Meer von Braun
       
       Aber einer von ihnen, das ist Dreux. 38 Prozent für La France Insoumise.
       Feierlaune – die nicht lange währt, denn mit Macrons Ankündigung beginnt
       für alle im Raum schlagartig der nächste Wahlkampf und dieses Mal geht es
       nicht um eine Handvoll Sitze in Brüssel.
       
       Ausgerechnet die Partei greift nach der Macht, deren Vorläufer Dreux vor
       gut 40 Jahren über Nacht berühmt gemacht hat. Es ist ein bitterer Ruhm, der
       an der Stadt klebt wie ein dreckiges Pflaster, das sich nicht ablösen
       lässt.
       
       Bei den Kommunalwahlen 1983 tritt in Dreux Jean-Pierre Stirbois an, der
       damalige Generalsekretär des Front National, enger Vertrauter von
       Parteigründer Jean-Marie Le Pen. Der Front National holt damals 16,7
       Prozent. Es ist das bis dato höchste Wahlergebnis, ein politisches
       Erdbeben, das nicht als kleines Provinzspektakel durchgeht, sondern ganz
       Frankreich bewegt. Denn während die Sozialisten das Rathaus räumen müssen,
       zieht ein Bündnis aus konservativen Republikanern und dem Front National
       gemeinsam ein.
       
       Die nationale und internationale Presse reist nach Dreux. Es kommt zu
       Demonstrationen, sogar zu Zusammenstößen in der Stadt. Agnès Cueille ist
       damals Studentin und hat noch die Kamerateams vor Augen, die Mikrofone und
       die immer gleiche Frage: „Warum hier, warum in Dreux“?
       
       Man verwies – schon damals – auf die Einwanderung, weil in den 60er und
       70er Jahren massiv Arbeiter:innen für die umliegenden Fabriken
       gebraucht wurden, für Pharmaunternehmen, für Automobilhersteller.
       Siedlungen wurden dafür schnell auf die angrenzenden Felder gebaut. Die
       Fabriken gingen irgendwann, die Menschen aber blieben auch ohne Arbeit, in
       ihrer Schlafstadt. Wo sie heimisch wurden, aber wo auch ihre Kinder, in
       Frankreich geboren, nie als Einheimische behandelt werden.
       
       Für Dreux endet der braune Schrecken Ende der Achtziger Jahre. Jean-Pierre
       Stirbois stirbt 1988 bei einem Autounfall, die Allianz zwischen den rechten
       Parteien zerfällt – vor allem wollen die Menschen in Dreux sich aber vom
       Stigma der rechtsextremen Hochburg befreien. Seit 1989 stellt die
       republikanische Rechte in Dreux die Bürgermeister, die sich wie in einer
       Dynastie das Zepter weiterreichen.
       
       „Eigentlich sind wir eine ganz friedliche Stadt“, sagt Agnès Cueille beim
       Mittagessen im Bistro Chez les sister’s, einem Treffpunkt Alternativer.
       „Die Bevölkerungsgruppen kommen miteinander aus.“ Neben Cueille sitzt
       Lucien Conte, 24 Jahre alt. Er sagt: „Wir belegen unter den mittelgroßen
       Städten Platz 44, was die Arbeitslosigkeit angeht, eigentlich bleibt den
       jungen Leuten nur die Perspektive, die Stadt zu verlassen. „Zurück kommt
       kaum jemand.“
       
       Conte zerlegt einen Fleischspieß. Eigentlich wäre er gern für La France
       Insoumise am 30. Juni angetreten, der Sieg seiner Partei in Dreux bei den
       Europawahlen hätte es nahegelegt. „Viele verstehen nicht, warum wir nicht
       für den Front Populaire antreten. Aber die Wahlbezirke werden eben auf alle
       Parteien im Bündnis verteilt – und nicht immer passt das zum Ergebnis. Klar
       unterstütze ich jetzt unsere Kandidatin vom Parti Socialist. Das Wichtigste
       ist, dass wir gewinnen.“
       
       Dass sich die Linke innerhalb von nur 24 Stunden zu einem Bündnis
       zusammengeschlossen hat, war in den Augen vieler eine mindestens genauso
       große Überraschung wie die Neuwahlen selbst. In den vergangenen Jahren
       hatten Grabenkämpfe und die Egos der jeweiligen Kandidat:innen linke
       Mehrheiten verhindert.
       
       Jetzt hat man sich in Rekordzeit auf ein Programm geeinigt, das vor allem
       die Vermögenden in die Pflicht nehmen will. Eine Volksfront aus vier
       Parteien, unterstützt von einer Vielzahl von Gewerkschaften, Vereinen,
       Organisationen. Antifaschistisch lautet die Parole, den RN verhindern,
       möglichst nicht über thematischen Differenzen sprechen und vor allem, kein
       großes Personalkarussell anwerfen.
       
       ## Nahostkonflikt als innenpolitischer Faktor
       
       Wer als landesweiter Spitzenkandidat für den Front Populaire antreten soll,
       steht deswegen auch noch nicht fest. Lucien Conte, der als Assistent für
       eine LFI-Abgeordnete arbeitet und zwischen Dreux und Paris pendelt, sähe am
       liebsten Mélenchon, wegen seiner politischen Erfahrung und rhetorischen
       Stärke. „Aber egal wer es wird, Hauptsache wir schlagen Le Pen!“, betont
       er.
       
       Lucien Conte und Agnès Cueille wissen, dass sie dafür mehr Menschen
       mobilisieren müssen. Die Nichtwähler könnten, wie schon bei den letzten
       Wahlen, dem RN in die Hände spielen, denn den Rechtsextremen gelingt es in
       der Regel, ihre Anhängerschaft zu mobilisieren.
       
       Und noch eine andere Gruppe ist für diese Wahlen wichtiger als je zuvor:
       die französischen Muslime. „Macron und die Rechte versuchen uns vor allem
       bei der Frage um Palästina zu spalten“, sagt Agnès Cueille. „Sie sagen, wir
       hätten Antisemiten im Front Populaire. Aber wir sind die einzige politische
       Formation, die darauf pocht, dass das internationale Recht eingehalten
       wird, die verurteilt, wie Netanjahu in Gaza vorgeht. Unser gutes Ergebnis
       in Dreux liegt auch daran, dass wir das so deutlich sagen. Denn was steht
       dahinter? Es wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn der Westen bei Russland
       auf internationales Recht pocht, aber nicht Gleiches für die Verbrechen
       Israels gilt.“
       
       Tatsächlich ist der Nahostkonflikt zu einem innenpolitischen Faktor
       geworden. Aber erklärt das das gute Abschneiden von LFI in Dreux? Das hat
       auch viel mit der regionalen Verwurzelung von Menschen wie Agnès Cueille zu
       tun, die vor Ort einfach jeder kennt. Und die unermüdlich für ihre
       politischen Überzeugungen wirbt.
       
       Favorit bei den Parlamentswahlen ist hier aber der republikanische
       Abgeordnete [5][Olivier Marleix], der das Departement, zu dem Dreux gehört,
       seit 2022 vertritt. Als Fraktionsvorsitzender der Républicains ist er viel
       im Fernsehen zu sehen, ein Politpromi, den viele allein deswegen wählen.
       Olivier Dubois kennt auf den Straßen hier hingegen keiner. Wie auch? Der
       Kandidat des RN tauchte erst vor wenigen Tagen auf der Bildfläche auf. Sein
       Plan war es eigentlich, mit Marleix zu koalieren: „Wir hätten wirklich als
       Olivier-Duo ins Rennen gehen können, ich hätte ihn gut ergänzt. Aber er war
       der erste, der eine Allianz mit uns zurückgewiesen hat“, sagte Dubois.
       
       In Dreux soll sich die Geschichte nicht wiederholen. Das Trauma von 1983
       sitzt zu tief in dieser kleinen Stadt.
       
       23 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) [2] /Neuwahlen-in-Frankreich/!6013323
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 (DIR) [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Jean-Luc_M%C3%A9lenchon
 (DIR) [5] https://fr.wikipedia.org/wiki/Olivier_Marleix
       
       ## AUTOREN
       
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